68 war das Jahr, in dem sich mein Blickfeld auf das Politische erweiterte, in dem ich politisches Bewußtsein überhaupt erst entwickelte. Das Jahr war natürlich von einer besonderen Dichte der Ereignisse. Auch die konservative Zeitung, hinter der die klugen Köpfe meiner Eltern steckten – meine wichtigste Informationsquelle – konnte das nicht (oder wahrscheinlich gerade nicht) unbeobachtet lassen.
Für mich war es eine Zeit der Befreiung – endlich ein freierer Blick auf die Vergangenheit, Der Wunsch nach mehr gesellschaftlicher- aber auch ganz persönlicher Freiheit – schien erfüllbarer.
Und dann gab es die zunächst in den mir zugänglichen Medien bejubelten, dann mit Skepsis verfolgten Ereignisse in Prag. Das war ja nicht überraschend, so sind eben die Kommunisten/Sowjets, hätte nur noch gefehlt, dass die NVA…
Die 68er, scheint mir im Rückblick, haben die Vorgänge nicht wirklich zur Kenntnis genommen – die Bewegung war vielleicht zu jung, nach innen gerichtet, gesellschaftspolitisch vielleicht eher zur Revolution als zur Reformation entschlossen: und der historische Versuch im Nachbarland, eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen, eine ersehnte Umwandlung des repressiven Realsozialismus in ein wirklich attraktives, lebendiges, offenes System – das ging an uns vorbei. Aus ungeklärtem Verhältnis zum sowjetischen Regierungstyp, aus Überheblichkeit (wie können die Funktionäre etwas erfinden, das wir erreichen wollen…) Berlin und Paris waren wichtiger.
Ich habe später, als alles vorbei war, nicht gehört, dass das tschechische Vorbild eine Rolle gespielt hätte. Eine historische Gelegenheit wurde versäumt, eine historische Errungenschaft gering geschätzt. Wer hat Dubcek ideologisch gestützt, seine Vorstellungen am Leben gehalten? Sozialismus und “menschlich” – das war für die Mehrheit eine contradictio in adjecto.
Friedrich Däuble, geboren 1953, Studium Geschichte/Germanistik in Heidelberg, seit 1983 im Diplomatischen Dienst, war bis Juni 2018 Botschafter bei den Vereinten Nationen in Genf.