Als sowjetische Panzer im August 1968 durch Brünn rollten, passierten sie auch ein Gebäude mit dem Schriftzug der kommunistischen Parteizeitung. Sie hieß Rudé právo, Rotes Recht. Ein Kameramann des tschechoslowakischen Fernsehens filmte die Szene. Ihm war klar, dass sie alles Wesentliche über die Niederschlagung des Prager Frühlings erzählte. Bevor der Fernsehmann sich allerdings in Sicherheit bringen konnte, stellte ihn ein sowjetischer Uniformierter. Mit vorgehaltener Waffe verlangte er die Herausgabe des Filmmaterials. Die Bilder hat nie ein Mensch gesehen. Sie haben nur überdauert in den Erzählungen des Kameramanns.
Die Sowjets wussten um die Macht der Bilder, und sie fürchteten sie. Und das, obwohl die Kräfteverhältnisse von Anfang an klar zu sein schienen in jenen Tagen. Auf einem Flugplatz nahe Brünn waren 75 Maschinen aus der UdSSR gelandet. 7000 sowjetische Soldaten besetzten die Stadt. Sie übernahmen an allen strategisch wichtigen Punkten die Kontrolle. Als sie aber am Nachmittag des 21. August ins TV-Studio im Zentrum der Stadt eindrangen, waren die Fernsehleute, einschließlich des Kameramanns, schon weg. Sie hatten sich mit einem Übertragungswagen zurückgezogen zum Sender Kojál. In einem kleinen Büro richteten sie ein behelfsmäßiges Studio ein. Vor einer Karte der Tschechoslowakei saß der Redakteur Lubomír Popelka. „Verehrte Freunde“, wandte er sich ans Publikum im ganzen Land, „wir senden vom Ausweichquartier des Brünner Studios aus. Wir wissen nicht, wie lange wir noch senden können“.
Es dauerte in der Tat nicht lange, bis die sowjetischen Besatzer den Sender lokalisiert hatten. Mit einem Hubschrauber kreisten sie über dem Turm. Die Fernsehleute wussten, dass zu diesem Zeitpunkt in Brünn bereits Schüsse gefallen waren. Als der Hubschrauber landete, verlangten die Soldaten, den Sender sofort außer Betrieb zu nehmen. Die Fernsehleute gaben ihr Notstudio auf, nicht aber das Programm. Sie machten weiter aus einem Geheimstudio im Gebäude der Akademie der Wissenschaften. Ausgestrahlt wurde das Programm – von den Sowjets zunächst unbemerkt – weiterhin über den besetzen Sender Kojál.
Die Bilder erreichten so auch den ORF in Wien. „Liebe Freunde in Österreich, ich spreche jetzt aus Brünn. Wir sind vielleicht die einzigen in der ganzen Tschechoslowakischen Republik im Fernsehen, die noch senden können. Ich weiß nicht, wie lange. Ich bitte alle, informieren Sie die ganze Welt, besonders den UN-Generalsekretär U Thant und den Sicherheitsrat“, appellierte Popelka auf Deutsch. „Ich bin, liebe Freunde, Kommunist, aber in dieser schweren Situation, geht es nicht darum, ob jemand Kommunist ist oder nicht, es geht um alles in der Tschechoslowakei.“ So war es. Eine Woche nach dem Einmarsch gaben Popelka und seine Kollegen auf.
Jindřich Brössler, der Kameramann, setzte sich mit Frau und Kind in seinen Škoda und machte sich auf den Weg nach Wien. Neun Monate später kam in Frankfurt am Main sein zweiter Sohn zur Welt. Der sollte später mal Journalist werden und die Geschichte nie vergessen, wie ein paar Brünner Fernsehleute bewaffnet mit ein bisschen Mut der Macht der Bilder eine Woche lang einem Imperium trotzten.
Daniel Brössler, geboren 1969 in Frankfurt am Main als Sohn tschechischer Emigranten. Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in Moskau, Brüssel, Berlin.