#90 Bütis Woche: GroKo und Europa: Wie viel dürfen wir erwarten?

Zwischen Brüssel und Berlin lese ich noch einmal das Europakapitel aus dem Sondierungspapier von CDU, CSU und SPD vom 12.01.2018. Jetzt, da der SPD-Parteitag den Weg für Koalitionsverhandlungen geöffnet hat, bleibt dieser Text ja relevant.

Können wir auf der Basis der drei Seiten europapolitischer Absichtserklärungen, die den Anfang der GroKo-Sondierungsergebnisse schmücken, tatsächlich auf „eine Erneuerung und einen neuen Aufbruch“ der EU hoffen, wie die GroKo-isten zu Beginn ihrer Ausführungen formulierten? Bemerkenswert ist zunächst einmal, wie unterschiedlich die Rezeption des Textes in der Brüsseler Öffentlichkeit, unter den deutschen Freunden Europas und in den beteiligten Parteien selbst war. Die symbolträchtige Entscheidung, die Sondierungsergebnisse mit einem Europakapitel zu beginnen, fiel natürlich überall auf. Aber nur in Brüssel führte sie zu Reaktionen, die von Entzücken bis zu Verzückung reichten. Jean-Claude Juncker, der Kommissionspräsident, erklärte: „Dies ist ein sehr erheblicher, positiver, konstruktiver, zukunftsorientierter, zielführender Beitrag zur europapolitischen Debatte.“ Mehr Adjektive in einem Satz habe ich von Juncker noch nie gehört. Nur, wenn er gesagt hätte, der Text hätte auch von ihm selbst sein können, wäre das noch ein grünerer Lorbeer gewesen. Aber Junckers XXXL-Enthusiasmus muss man natürlich im Zusammenhang sehen mit der übergroßen Sorge, ein völliger Stillstand in Berlin könne dazu führen, dass das Fenster für europäische Reformen sich schon wieder schließt, bevor die Deutschen in die Pötte kommen.

In der deutschen Öffentlichkeit wurden die GroKo-Sondierer*innen überwiegend dafür gelobt, Europa so wichtig zu nehmen. Offensichtlich weckte der Text die Erwartung, die nächste GroKo werde, so sie denn zustande käme, eine aktivere Europapolitik machen als die letzte. Und sie werde eine Europapolitik mit neuen Akzenten machen. Aber bei der Frage, welche neuen Akzente das sein würden, lasen unterschiedliche Augen unterschiedliche Interpretationen in den Text hinein. Die ARD schaffte es, am 12. Januar innerhalb einer halben Stunde zwei Interpretationen zu publizieren, die sich ziemlich widersprachen. Den freundlichsten Kommentar las ich von Henrik Enderlein, der die SPD europapolitisch berät und der das Sondierungsergebnis sehr vorteilhaft gegenüber dem unvollendeten Jamaika-Europapapier hervorhob. Josef Janning vom European Council on Foreign Relations in Berlin war zurückhaltender beim Verteilen von Komplimenten. Er bemängelte etwa, dass der ganze GroKo-Sondierungstext 130 Mal die Formulierung „wir wollen“ verwende, nur 50 Mal „wir werden“ und ziemlich wenig darüber sage, mit welchen Mitteln formulierte Ziele erreicht werden sollen. In Bezug auf den Europateil des GroKo-Papiers hat Janning zweifellos Recht. „Wir wollen“, „die EU muss“, „die EU braucht“ liest man fortlaufend. Richtig verbindlich wird’s nicht oft.

Wieder ganz anders ist nach meiner Beobachtung die Rezeption sowohl der Tatsache, dass „das Thema Europa ganz oben steht“, wie auch der Verabredungen, die zu diesem Thema mehr oder weniger deutlich getroffen wurden, in den GroKo-Parteien. Aus der Union war lautes Schweigen zu vernehmen gegenüber dem Umstand, dass der Sondierungstext sich, was immer man sonst dazu sagen mag, von der Textsorte doch ziemlich unterscheidet, die zu Zeiten des Finanzministers und Eurozonen-Beherrschers Schäuble formuliert worden war. In der SPD wiederum, die am Sonntag voller Emotionen darum stritt, ob sie sich auf eine Koalition einlassen solle, verursachte das Europathema keine hohen Wogen. Die schwarz-roten Parteien sehen, so scheint es, in der Europapolitik keinen entscheidenden Grund für oder gegen eine Große Koalition, wiewohl ihre Führungen, Schulz und Merkel beide, mit dem Argument, es sei notwendig, Europa zu gestalten, für die Große Koalition warben.

Wenn ich mir anschaue, wie wenig Union und SPD die demonstrative Betonung Europas im Sondierungstext mit Emphase füllen und wie vage der Text in vielen entscheidenden Punkten letztlich doch ist, dann frage ich mich schon, wie bedeutend das von der GroKo ins Auge gefasste europapolitische Handeln tatsächlich sein wird, sobald die GroKo Europa nicht mehr als Argumentations-Kitt für ihr Zustandekommen braucht.

Für den Augenblick und bis zum Erweis des Gegenteils will ich den GroKo-Europatext zum Nennwert nehmen. Die Kritik, dass der Text vage sei, trägt sicher nicht sehr weit. Es gibt genug Beispiele dafür, dass manchmal in vagen Formulierungen sich weitreichende Änderungen andeuten. Also will ich gerne versuchen, dem Text etwas abzulauschen, und dabei auch schauen, wie sich das, was sich da abzeichnet, von dem unterscheidet, was bei Jamaika vor dem Abbruch der Gespräche durch die FDP europapolitisch auf dem Tisch lag.

In Bezug auf die Reform der Eurozone und der wirtschaftlichen Governance der EU insgesamt gibt es zwischen GroKo-Europa und Jamaika-Europa Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Drei Gemeinsamkeiten stechen hervor. In beiden Texten wird die Bereitschaft ausgedrückt, künftig größere deutsche Beiträge zum europäischen Haushalt zu leisten. Bei Jamaika ist das, finde ich, eleganter formuliert und verbunden mit einigen klaren Haushaltsprioritäten und einer Betonung der Haushaltseffizienz. Bei GroKo ist diese neue Haltung direkter und expliziter zu finden. Aber beide signalisieren unseren europäischen Partnern: Wir wissen, dass wir den Geldbeutel weiter aufmachen müssen. Gut. Zweite Gemeinsamkeit: Beide Texte verabschieden sich von Schäubles Austeritätsfixierung zugunsten der Priorität von Investitionen. Auch das ist für unsere Nachbarn ein wichtiges Signal. Gut. Dabei fokussiert der GroKo-Text, genau gelesen, vermehrte Investitionen explizit nur auf das Juncker-Programm EFSI. An der Stelle bot der Jamaika-Text vielleicht mehr Ansatzpunkte. Dritte Gemeinsamkeit: Zwar wird goodwill gegenüber den Macron-Vorschlägen zur Eurozone signalisiert, aber dort, wo’s konkret werden müsste, bleiben ziemlich viele Fragezeichen. Macrons europäischen Finanzminister erwähnen beide Texte nicht. Beide Texte legen sich nicht auf Macrons Eurozonen-Budget fest. Während sich Jamaika nicht auf ein Konzept für die Vollendung der Bankenunion einigen konnte, spart GroKo das Thema schlicht aus. Die erfolglosen Versuche bei Jamaika, sich auf eine Finanzfazilität zu verständigen, mit der sich asymmetrische ökonomische Schocks bekämpfen lassen, hat GroKo offenbar gar nicht gemacht, sondern sich für „spezifische Haushaltsmittel“ ausgesprochen, die, wie der Text formuliert ist, wohl keine makroökonomische Dimension hätten. Besser als Jamaika ist GroKo beim Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), auf den wir uns mit der FDP partout nicht verständigen konnten. GroKo will ihn, was richtig ist, „zu einem parlamentarisch kontrollierten Europäischen Währungsfonds weiterentwickeln“. Doch dann folgt im Nebensatz eine besondere Feinheit: Der EWF soll im „Unionsrecht“ verankert sein, nicht im „Gemeinschaftsrecht“. De facto lässt damit der GroKo-Text, wie ich das lese, einen rein intergouvernementalen EWF zu; die parlamentarische Kontrolle wäre dann eben nicht die durch das Europäische Parlament. Da wird also ein bisschen Potemkin gespielt.

GroKo hat eine Zwischenüberschrift, die „ein Europa der Chancen und der Gerechtigkeit“ verspricht. Da hat die SPD gegenüber der Union in Bezug auf soziale Grundrechte, Mindestlohnregelungen und andere soziale Fragen mehr herausgeholt als wir gegen Union und FDP. Bei den Ausführungen zum Kampf gegen Steuerdumping, Steuerbetrug und Steuervermeidung sowie Geldwäsche passen GroKo und Jamaika gut aufeinander. Man sollte da also von Deutschland künftig mehr erwarten können. An einer Stelle in diesem Unterabschnitt allerdings ist GroKo sehr schwach: in Bezug auf innereuropäische Mobilität. Das Bekenntnis zur vertragstreuen Umsetzung von Schengen, das wir bei Jamaika erkämpft hatten, findet sich bei GroKo nirgends. Stattdessen liest man den ominösen Satz „Wir wollen faire Mobilität fördern, jedoch missbräuchliche Zuwanderung in die Systeme der sozialen Sicherheit unterbinden.“ Das lässt leider viel Platz für Anti-Schengen-Demagogie.

Bezüglich der EU-Außenpolitik findet der GroKo-Text größere Worte, bietet aber nicht mehr Klarheit. Das Versprechen für eine Verstärkung der Beitrittsperspektive für die Länder des Westbalkans fehlt. Das ist ein erhebliches Manko, weil der Westbalkan ohne eine Beitrittsperspektive zum europäischen Krisenherd werden muss. GroKo verspricht, ähnlich wie Jamaika das tat, Engagement für die „demokratischen und rechtsstaatlichen Werte“ der EU. Das ist ein notwendiges Signal an Staaten wie Ungarn und Polen. Die Auslegung dieses Grundsatzes und die Strategie, die zu seiner Umsetzung gewählt werden soll, sind allerdings Fragen, in denen extrem viel Sprengstoff steckt. Der deutet sich etwa an, wenn in Brüssel jetzt darum gestritten wird, ob nicht das europäische Budget instrumentalisiert werden soll, um Polen und Ungarn Mores zu lehren. Manche sprechen schon von einer „weaponization of the budget“. Wenn das Denken vorherrscht, wird’s gefährlich.

Was noch? Die deutsch-französische Achse wird bei GroKo wesentlich stärker betont als bei Jamaika. Man kann die entsprechenden Ausführungen als Zeichen dafür lesen, dass nach den GroKo-Vorstellungen Deutschland und Frankreich gemeinsam eine Art Kondominium in der EU errichten sollen; „gemeinsame Positionen möglichst zu allen wichtigen Fragen der europäischen und internationalen Politik“ sollen Deutschland und Frankreich entwickeln. Den übrigen Mitgliedstaaten wird von GroKo im nächsten Satz dann bedeutet, dass man ohne sie voranmarschieren werde, wenn die EU mit ihnen „nicht handlungsfähig“ sei. Das ist fast Originaldiktion des französischen Ministers Le Maire, der uns am Rande der Jamaika-Verhandlungen dafür gewinnen wollte, die politische Integration im Wesentlichen auf die Eurozone zu konzentrieren, weil die anderen eh nicht richtig spuren. Das ist nicht nur arrogant, sondern letztlich spalterisch. Auch GroKo muss zur Kenntnis nehmen, dass in wichtigen Teilen Europas nichts so sehr befürchtet wird wie ein „Europa der zwei Geschwindigkeiten“, das sich dann de facto als Europa der zwei Klassen erweist. Dieser Ton ist manchen Kommentatoren durchaus aufgefallen. In einem ARD-Kommentar war davon die Rede, es solle in Zukunft eine „Premium-EU“ und eine „EU-Holzklasse“ geben. Gar nicht gut. Vielleicht hat Präsident Juncker das nicht gelesen; würde mich wundern, wenn er das für „zielführend“ hielte. Wenn GroKo das tatsächlich so meint, wie es mir scheint, dann wird da letztlich ein Strukturierungskonzept für die EU angestrebt, das insbesondere die Osteuropäer an den Rand drängt. Die französische Politik hat sowas auch in der Vergangenheit immer mal wieder versucht. Im wohlverstandenen deutschen Interesse kann eine solche Teilausgrenzung eigentlich nicht sein.

Josef Janning hatte in seiner Analyse zum GroKo-Text geschrieben, der bedeute den Anfang vom Ende einer alles dominierenden Rolle Deutschlands innerhalb Europas. Ich glaube ja, dass es eine schlichte Illusion und ein zum Scheitern verurteiltes Konzept wäre, wollte Deutschland tatsächlich in der EU eine Hegemonialrolle anstreben. Wo das in der Vergangenheit innerhalb der Eurozone unseren Partnern so vorkam, hat es dem Zusammenhalt in der EU und der Rolle Deutschlands nicht gut getan. Jetzt aber zu glauben, die Lösung könnte möglicherweise darin bestehen, einfach mit Frankreich gemeinsam festzulegen, wohin für alle in der EU die Reise geht, das wäre ein verhängnisvoller Irrtum. Ich fürchte, auf das Thema werden wir zurückkommen müssen, aber
vielleicht belehrt uns ja der GroKo-Koalitionsvertrag auch eines Besseren.


Sonst noch
  • Alle Informationen rund um die BDK am 26. und 27. Januar sind hier zu finden. Bei der BDK wird auch über zwei europapolitische Anträge diskutiert und abgestimmt werden: 1. Für einen neuen europäischen Aufbruch, welcher von mir eingereicht wurde; 2. Weitere Demokratisierung und Europäisierung der Europawahl 2019, der die Idee von transnationalen Listen begrüßt. Ich unterstütze diesen Antrag.
  • Bei der BDK steht neben der Bundesvorstandswahl die Parteiratswahl an. Hier könnt ihr euch meine Bewerbung für den Parteirat anschauen.
  • Am 20. Januar habe ich am Parteitag unserer Grünen Freunde in Tschechien teilgenommen. Petr Štĕpánek, seit 2014 Bürgermeister von Prag 4, wurde zum neuen Vorsitzenden der tschechischen Grünen gewählt. Gratulation!
  • Am 22. Januar jährte sich der Elysée-Vertrag zum 55. Mal. An diesem Tag stimmte sowohl die Mehrheit der Abgeordneten des Bundestages als auch der französischen Nationalversammlung für eine gemeinsam erarbeitete Resolution, in der sie die Regierungen beider Länder auffordern, im Laufe des Jahres einen neuen Elysée-Vertrag aufzusetzen.
  • Die Mehrheit der Abgeordneten des Verfassungsausschusses im Europäischen Parlament hat am 23. Januar für transnationale Listen für die nächsten Wahlen zum Europäischen Parlament im Frühjahr 2019 gestimmt.