Von Reinhard Bütikofer (Bündnis 90 /Die Grünen), Vize-Vorsitzender der China-Delegation des Europaparlaments
Liu Xiaobo ist tot, Chinas erster Friedensnobelpreisträger. Nur ein einziger Friedensnobelpreisträger starb vor ihm in Unfreiheit: Carl von Ossietzky, der deutsche Pazifist und Kämpfer gegen die Nazis, im Jahr 1938.
Zweimal, 1989 in einer Hungerstreikerklärung und 2009 bei der Verurteilung zu elf Jahren Gefängnis, erklärte Liu Xiaobo: „Ich habe keine Feinde und keinen Hass.“ Doch die chinesische kommunistische Partei verfolgte ihn als Feind und hasserfüllt bis zum Ende. Viele Jahre seines Lebens verbrachte er in Haft. Weil er sich nicht davon abbringen ließ, frei und offen seine Meinung zu sagen. Liu Xiaobo hinterlässt seine Frau Liu Xia, die selbst seit mehreren Jahren unter Hausarrest stand, weil sie ihn unterstützte. Das Ehepaar hatte zuletzt darum gebeten, China verlassen zu dürfen, damit Liu Xiaobo, der unter Leberkrebs im Endstadium litt, eine Behandlung seiner Wahl genießen und schließlich in Freiheit sterben könnte. Ein US-amerikanischer und ein deutscher Arzt hatten nach einer Untersuchung bestätigt, dass Liu Xiaobo transportfähig war. Aber Gnade wurde nicht gewährt.
Liu Xiaobo selbst bezeichnete in seiner Nobelpreisrede, die 2010 in seiner Abwesenheit verlesen wurde, den Juni 1989 als Wendepunkt seines Lebens. Davor hatte er von Deng Xiaopings Politik der Reform und der Öffnung profitiert, hatte als akademischer Lehrer und öffentlicher Intellektueller gewirkt, hatte Europa und die USA besucht. Bei der Niederschlagung der Studentenbewegung vom 4. Juni 1989 hatte er vielen jungen Leuten das Leben gerettet, indem er half, sie vor dem Militär in Sicherheit zu bringen. Danach musste er zum ersten Mal ins Gefängnis und durfte nicht länger in China publizieren.
Fast 20 Jahre später war Liu Xiaobo der Hauptautor der sogenannten Charta 08, eines Manifests für politische Reform in China, das Tausende Intellektuelle unterstützten. Liu Xiaobo war nicht gewalttätig und rief nicht zu Gewalt auf. Dass er trotzdem eine langjährige Haftstrafe verbüßen sollte, schockierte 2009 die Welt. Er hatte mit der Charta 08 dafür plädiert, die in der chinesischen Verfassung garantierten Rechte und Werte tatsächlich einzuhalten und auch gegenüber der kommunistischen Partei durchzusetzen. Dass es an seinen eigenen Versprechungen gemessen werden sollte, das war dem chinesischen Regime unerträglich. Konstitutionalismus gilt seither in China offiziell als gefährliche geistige Verirrung.
Vor fünf Jahren war es noch möglich, mit manchen chinesischen Funktionären über Liu Xiaobos Schriften zu diskutieren. Heute nennen die meisten westlichen Spitzenpolitiker seinen Namen gegenüber der chinesischen Führung allenfalls hinter verschlossenen Türen noch im Flüsterton.
Liu Xiaobo steht für den Aufbruch des chinesischen Volkes nach den Schrecken der Kulturrevolution. Es steht für die vielen, die sich dafür einsetzten, dass die Reformpolitik nicht auf die Wirtschaft beschränkt bleiben dürfe. Er war Demokrat, ein mutiger, freiheitsliebender. Sein Tod in Haft symbolisiert die repressive Wende, die Chinas Politik in den letzten zehn Jahren immer stärker genommen hat. Liu Xiaobos Unbeugsamkeit steht zugleich für die Hoffnung all derer, die wollen, dass der Frühling nach China zurückkehrt. Bertolt Brecht, Liu Xiaobos Dichterkollege, schrieb voll verzweifeltem Optimismus: „Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.“