Am Sonntag um 14 Uhr ist es wieder soweit. In über 30 deutschen Städten und inzwischen auch in 4-5 anderen europäischen Ländern demonstriert die Bürgerbewegung Pulse of Europe. Die größte Kundgebung am vergangenen Sonntag fand mit 3000 Teilnehmer*innen auf dem Berliner Gendarmenmarkt statt. Parteifahnen wurden nicht geschwungen, sondern die blauen Fahnen mit den gelben Sternen. Und als am Ende der Kundgebung die Europahymne angestimmt wurde, schien Schiller auf seinem Denkmal etwas zu lächeln. Eine kleine Gruppe junger Leute hatte diese Veranstaltung organisiert, zum vierten Mal; die ganze Bewegung ist sehr jung. Dafür breitet sie sich gerade aus wie ein Lauffeuer. Die Botschaft ist so schlicht wie notwendig: Europa darf nicht scheitern. Einige Redner*innen, die das Wort ergriffen – Parteiredner*innen traten keine auf – berichteten, sie nähmen zum ersten Mal an einer solchen Aktivität teil. Es war ein leichtes, ein schönes Gefühl dort auf dem Gendarmenmarkt, so als würden viele zu sich sagen: Bürgerbewegung geht auch für Europa.
Wer sich zu den Grünen Freunden Europas zählt und eine Kundgebungen in seiner/ihrer Nähe findet, sollte hingehen. Mit der blauen Fahne. Die Initiator*innen von Pulse of Europa haben nämlich eine wichtige Sache sehr gut verstanden: Die Krise der Europäischen Union ist so tief, dass die Bürger*innen sich einmischen müssen, damit es nach vorne geht und nicht zum Zerfall. Auf der Webseite (http://pulseofeurope.eu) findet Ihr Informationen zu der Bürgerbewegung. Es wäre so bedeutend, dass noch viel mehr Freunde Europas, aus allen demokratischen Parteien genauso wie Parteilose, sich dieser Bewegung anschließen und signalisieren, dass wir für unsere europäischen Ideale und Visionen kämpfen und sie nicht aufgeben.
Grund zum Verzweifeln könnte, wer will, leicht finden. Etwa wenn der starke Mann Polens, der weniger begabte Kaczynski-Zwilling, seine persönliche Feindschaft gegen den früheren polnischen Ministerpräsidenten und heutigen Präsidenten des Europäischen Rates, Tusk, soweit auf die Spitze treibt, dass daran ein ganzer europäischer Gipfel trotz seiner wichtigen Aufgaben zu scheitern droht. Oder wenn in Frankreich Frau Le Pen trotz offensichtlicher Korruption im ersten Wahlgang für die Präsidentschaftswahl auf dem ersten Platz steht oder kurz dahinter. Wenn Frau May, die britische Premierministerin, ein radikales Brexit-Programm durchziehen will, für das sie, wenn sie es denn so in der Volksabstimmung präsentiert hätte, nie eine Mehrheit bekommen hätte. Oder wenn die Euro-Gruppe darauf besteht, Griechenland müsse unbedingt nicht nur in diesem Jahr, sondern auch in vielen Folgejahren einen primären Haushaltsüberschuss von mindestens 3,5 % erzielen, obwohl nun wirklich jedermann weiß, dass das schlicht ein Ding der Unmöglichkeit ist. Jede/Jeder, die/der diese Zeilen liest, kann sicher die Liste leicht verlängern. Ebenso leicht jedoch ist es zu verstehen, dass all das Bejammern und Beklagen, das mehr oder weniger lustvolle Beschreiben von Scheitern und Krise so rein gar keinen sittlichen Nährwert hat. Deutlich ist: Ein Selbstlauf ist der weitere Weg der EU nicht. Business as usual können nur noch abgefahrene Zyniker vorschlagen. Doch die Erschütterungen, die wir erleben, erinnern uns zugleich an den Satz: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“ In den Worten von Hegel: „Wenn etwas anders werden soll, muss etwas anders gemacht werden.“ Zu sehr ist vergessen worden, dass Europa nie zu den erreichten Erfolgen der Einigung gekommen wäre, deren Verlust heute droht, wenn nicht oft genug gegen erbitterten Widerstand und gegen die Wahrscheinlichkeit Menschen mit Weitsicht in den zwei Generationen vor uns für die Chance des europäischen Ausbruchs aus der ewigen Wiederkehr von Krieg, Verfeindung, Nationalismus und Chauvinismus gekämpft hätten. Kann irgendjemand wirklich behaupten, dass die Voraussetzungen für den Aufbau des gemeinsamen Europas vor 60 Jahren oder vor 50 Jahren oder vor 40 Jahren leicht gewesen wären? Das eben gefällt mir an der Pulse of Europe-Bewegung, dass sie sagt: Leicht ist es zwar nicht, aber wir wollen es, weil wir anders eine gute Zukunft nicht bauen können.
Dass wir eine europäische Zukunft zu bauen haben und nicht einfach eine fortschreiben können, das ist übrigens einer der Grundgedanken in dem sogenannten Weißbuch zur Zukunft Europas, das vor kurzem EU-Kommissionspräsident Juncker vorgelegt hat. Er hat, was etliche kritisiert haben, ich auch, nicht ein Papier vorgelegt, indem er dargelegt hätte, wie seiner Meinung nach die Zukunft gewonnen werden kann. Wahrscheinlich muss man ihm Recht geben, dass, hätte er das getan, sich ganz schnell alle möglichen Akteure aus völlig unterschiedlichen Gründen und mit ganz verschiedenen Motiven schnell darauf geeinigt hätten, dass es so natürlich nicht gehe, wie Juncker, diese angebliche “Inkarnation der ungewählten Brüsseler Bürokraten“ das ganz Europa vorschreiben wolle. Dieser billigen Masche hat er den Boden entzogen, indem er den Ball ins Feld der nationalen Regierungen und der nationalen Öffentlichkeiten gespielt hat. Welches Europa wollt ihr denn, hat er gefragt, ihr Deutschen, ihr Ungarn, ihr Polen, ihr Spanier, wo immer ihr seid? Wollt ihr ein zur reinen Wirtschaftsgemeinschaft abgemagertes Europa? Wollt ihr ein Weiter-so-Europa? Wollt ihr ein Mehr-Europa-Europa? Wollt ihr ein Wir-beschränken-uns-auf-das-Wesentliche-Europa? Wollt ihr ein Europa verschiedener Geschwindigkeiten? Wenn letzteres, wieviele sollen es eventuell sein und wie weit dürfen diese die verschiedenen Mitgliedsstaaten auseinanderziehen, bevor der Zusammenhalt reißt?
Ich finde, wir Grüne sollten im anstehenden Bundestagswahlkampf diese Fragen über die Zukunft Europas mit ins Zentrum rücken. Denn die Sicherheit, nach der heute von allen Seiten so dringend gesucht wird, Innere Sicherheit, Äußere Sicherheit, Soziale Sicherheit, Ökologische Sicherheit usw., die lässt sich eben nicht, wie die autoritären Nationalisten von AfD bis Orban nahelegen wollen, im Rahmen des Nationalstaats erzielen, sondern Sicherheit gibt es nur als europäische. Nur gemeinsam haben wir die Kraft, so wir uns dazu entschließen, der dramatischen Herausforderungen Herr zu werden, die wir jeden Tag erleben. Anders gesagt: Wie es mit Deutschland weitergehen soll, das können wir von der Entwicklung Europas nicht trennen. Welche Rolle Deutschland in Europa spielen wird, das ist mitentscheidend. Werden wir dazu beitragen, dass die Wende stattfindet, von der Austerität hin zu Investitionen, mit denen die notwendige Grüne Transformation unserer Wirtschaft vorwärts getrieben wird? Werden wir den europäischen Kampf anführen gegen Steuerhinterziehung und Steuerflucht? Werden wir dafür in die Bresche springen, dass angesichts der Notwendigkeit zu mehr europäischer Verantwortung für die eigene Sicherheit beizutragen richtig gigantische zusätzliche Rüstungsausgaben losgetreten werden, wie es aus Washington Herr Trump fordert und im Bundeskabinett besonders gelehrig Frau von der Leyen gerne wiederholt, obwohl alle Länder der EU gemeinsam heute dreimal so viel für Rüstung ausgeben wie die Russische Föderation?
Bei der letzten Bundestagswahl 2013 sagten noch viele: Mit Europa kannst Du die Wahl nicht gewinnen; gegen Merkels Dominanz kommt eh keiner an. Heute sollten wir begreifen, dass ”Europa” nicht etwas ”Äußeres” ist, sondern dass Europa zur Chiffre geworden ist, zum Symbol für die Frage, wie wir in Zukunft leben wollen. Wer sich nicht traut, diese Frage für die Union zu beantworten und damit Orientierung zu bieten, der braucht sich auch nicht einbilden, er könne in Deutschland regieren. Präsident Juncker hat bei seiner letzten Rede zur Lage der Europäischen Union im Herbst 2016 u.a. ausgeführt, die Europäische Union habe drei Kernaufgaben. Sie müsse ihre Bürger*innen schützen. Sie müsse den europäischen Way of life in seiner Vielgestaltigkeit verteidigen. Sie müsse ihre Bürger*innen ermutigen und ermächtigen (für empowerment kenne ich leider keine treffliche Übersetzung). Ich halte das für einen schönen Dreiklang. Den sollten wir möglichst oft erklingen lassen. Immer sonntags um 14 Uhr! Und unter der Woche auch, wenn wir diskutieren, warum die Bundestagswahl sehr wichtig sein wird.