CETA ist in aller Munde. CETA ist das kanadisch-europäische Wirtschafts- und Handelsabkommen, das seit sieben Jahren verhandelt wurde.
Noch vor einem halben Jahr hätte ich dagegen gewettet, dass CETA tatsächlich groß in die Schlagzeilen kommen würde. Ja, TTIP, das hoch emotional diskutierte geplante Abkommen mit den USA, das hatte es geschafft, zum ersten Mal überhaupt Handelsfragen zum Thema einer großen öffentlichen Debatte zu machen. Aber CETA, das Abkommen mit dem Land außerhalb Europas, das Europa vielleicht am ähnlichsten ist?
Es ist anders gekommen und es ist durchaus von ironischer Bedeutung, dass es am Ende die Verweigerung eines kleinen Regionalparlaments ist, die die entscheidende Zuspitzung im CETA-Drama liefert. Jetzt ist CETA mindestens zu drei Vierteln tot, vielleicht ganz, wofür jedenfalls spräche, dass derzeit gar nicht mehr über den Inhalt dieses Vertrages gestritten wird, sondern darüber, wer die Verantwortung dafür trägt, dass er jedenfalls so, wie geplant, nicht zustande kommt.
In diesem Streit will ich mich gerne beteiligen. Nicht schuld an dem Schlamassel ist die kanadische Regierung. Die vergleichsweise liberale Regierung von Premierminister Trudeau war sogar nach Abschluss der offiziellen Verhandlungen bereit, über ihren Schatten zu springen und an verschiedenen Punkten nachzujustieren. Die kanadische Seite wäre, so mein Eindruck, sogar für einige nachträgliche Zugeständnisse zugänglich gewesen, um die sich die Europäische Kommission gar nicht ernsthaft bemühte, weil es in ihre Handelsdogmatik nicht passte. Tatsächlich liegt meines Erachtens die Hauptverantwortung bei der Europäischen Kommission. Sie hatte sich vom Europäischen Rat vor Jahren ein Verhandlungsmandat geben lassen, das an verschiedenen Stellen über ihre alleinige Zuständigkeit für Handelsfragen hinausreichte. Damals mag das vielleicht einfach der Versuch gewesen sein, durch Arrondierung die eigene Kompetenz um ein paar Schrittchen zu erweitern. Im Nachhinein erwies es sich aber als entscheidender strategischer Fehler, weil CETA damit zu einem sogenannten gemischten Abkommen wurde, das der Ratifizierung durch alle Mitgliedsländer bedurfte, und in einem politischen Umfeld, in dem Handelsangelegenheiten nicht mehr als arkane Wissenschaft spezialisierter Juristen hingenommen wurden, sondern zum Gegenstand breiter Erörterung in der Öffentlichkeit gerieten, aus der Notwendigkeit einer 28-fachen CETA-Ratifizierung die 28-fache Möglichkeit des Scheiterns erwuchs. Die Kommission hatte CETA lange Jahre als geheime Verschlusssache gehandhabt, das hatte Misstrauen gesät. Auf den letzten Metern räumte man mehr Transparenz ein, die zögerliche SPD zum Beispiel wurde mit Erläuterungen und Klarstellungen und Erläuterungen zu Klarstellungen geradezu überschwemmt, aber den politischen Kern der Forderung nach Transparenz hat die Kommission nie tatsächlich begriffen und beachtet: dass bei diesem, wie allen anderen Handelsabkommen, zum Maßstab zu machen sei, ob die Interessen von Unternehmen, Arbeitnehmer*innen und Verbraucher*innen angemessen und ausgewogen berücksichtigt werden. Solange Handelsfragen keine öffentlichen Fragen waren, konnte man ohne großes politisches Risiko Abkommen abschließen, in denen die Anliegen der beiden letztgenannten Gruppen, höflich gesagt, nicht im Zentrum standen. Denn durchsetzungsfähig sind diese Interessen nicht über die klassischen Mechanismen von Lobbyeinfluss, sondern nur in der Sphäre der Öffentlichkeit. Die Kommission begriff nicht, dass die alte Handelspolitik, in der diese Öffentlichkeit kein Faktor war, zu Ende gegangen war, und dass deshalb eine neue Herangehensweise erforderlich geworden war. Die Kommission begütigte gegenüber der öffentlichen Kritik, sie beteuerte die besten Absichten, aber im Kern signalisierte sie doch fortwährend, dass es schlicht unverständig und ungehörig sei, wie sich da engagierte Bürger einmischen. Ihre letzte Zuspitzung fand diese technokratische Selbstgefälligkeit jetzt in der polemischen Wendung, die Schwierigkeiten bei der Durchsetzung von CETA seien schlicht ein Sieg der Antieuropäer. Diskreditieren statt ernst nehmen, gewürzt mit Denunziation.
Es war, scheint mir, ein Zufall, dass die spezifische Staatsverfassung Belgiens, eine Art Selbstblockade-Demokratie, jetzt zur Hürde wurde, an der der Abwurf stattfand. Es hätte auch auf andere Weise passieren können. Es ist auch ein Leichtes vorauszusagen, dass in Zukunft, wenn die Kommission nicht umdenken lernt, andere Handelsabkommen in konkretem Anlass, aber insgesamt ganz ähnlich, über den Deich gehen. TTIP, das Abkommen, bei dem die Handels-Kritik laufen lernte, ist schon so an die Wand gefahren, dass allenfalls ein Neuanfang noch die Chance zu einem Abschluss bieten könnte, und das ganz sicher nicht vor 2019. Das sähe dann allerdings sehr verschieden aus von dem, was seit 2013 zwischen den USA und der EU verhandelt wurde.
Wie kommt es, dass Handelsfragen eine solche Politisierung erleben? Es ist, meine ich, eigentlich ganz einfach zu erklären. Die modernen Freihandelsabkommen und in besonderer Weise TTIP, die Mutter aller Handelsabkommen, haben mit klassischem Freihandel, das heißt der Senkung von Zöllen zum gegenseitigen Vorteil, wie sie zum Beispiel schon die junge Arbeiterbewegung in der Mitte des 19. Jahrhunderts feierte, nicht mehr viel zu tun. Es sind Abkommen, die um Investoreninteressen kreisen. Genauer gesagt, es sind Abkommen, in denen es darum geht, wie weit zu Gunsten von Investoreninteressen ökologische, soziale, verbraucherschützende, arbeitnehmerschützende und demokratische Standards eingeschränkt oder gar eingerissen werden. Im Widerstand gegen diese Versuche, gesellschaftlichen Fortschritt zu untergraben, verteidigt die handelskritische Bewegung zentrale demokratische Errungenschaften und einen Way of Life, für den viele sich lange Zeit selbst aktiv engagiert haben. Wenn zum Beispiel die amerikanische Agrar-Lobby TTIP nutzen möchte, um ihre Gentechnikprodukte doch noch auf den europäischen Markt zu zwingen, dann geht es da nicht um Freihandel, sondern darum, dass ein mächtiges Lobbyinteresse handelspolitische Instrumente nutzen will, um sich gegen den erklärten Willen der Verbraucher*innen durchzusetzen. Schön formuliert hat das einmal der amerikanische Ex-Diplomat und spätere Lobbyist Stuart Eizenstat, der einmal erklärte: „What is good food for an American family, must be good food for a European family, too.“ In diesem Gentechnikbeispiel ist die Lobby, gegen die wir Verbraucherinteressen verteidigen, eine amerikanische. Andere Beispiele ließen sich leicht nennen, in denen bei TTIP versucht wird, US-Standards aufzuweichen, wo die besser sind. Und beim privilegierten Investorenschutz sind es die internationalen Großkonzerne hier wie dort, die ihre Macht zu Lasten von kleinen und mittleren Unternehmen und zu Lasten der Verbraucher*innen ausbauen wollen. Weil es also um Kernwerte unserer Gesellschaft geht, deswegen ist die Kritik so laut und wirksam geworden und so emotional.
Wie kann es vielleicht bei CETA weitergehen, kann es weitergehen? Ich würde der Europäischen Kommission eine einfache dreischrittige Agenda vorschlagen. Erstens muss man den Versuch einstellen, CETA wie es ist doch noch durchzuprügeln. Das klappt nicht. Reine Zeitverschwendung. Zweitens sollte sich die Kommission ein neues Mandat von den Mitgliedsländern besorgen, das darauf beschränkt ist, solche Materien zu verhandeln, für welche die Kommission ausschließliche Zuständigkeit besitzt. Das wäre ein eleganter Weg, den Streit um die Investorensondergerichtsbarkeit zu beenden, denn die gehört nicht dazu. Das wäre zugleich ein symbolisch wichtiger und auch materiell bedeutsamer Erfolg der Kritiker. Viel verhandeln müsste man bei einem so neu strukturierten Mandat nicht mehr, denn es könnte ganz pragmatisch die Dinge umfassen, die, weil sie Kommissionszuständigkeit sind, nach dem bisherigen CETA-Fahrplan hätten für vorläufig anwendbar erklärt werden sollen. Wohlgemerkt, nicht alles davon würde uns inhaltlich schmecken, aber die Kehrtwende, die damit vollzogen würde, wäre es wert. Wir wollen ja keine Wende weg vom Freihandel, sondern einen Freihandel, der auch ein fairer Handel ist. Und drittens sollte die Kommission der kanadischen Seite anbieten, dass ein so um seine problematischsten Teile verkürztes „CETA minus“-Abkommen noch im November unterschrieben werden kann. Ausgehandelt ist es ja. Europäisches Parlament und Europäischer Rat könnten dann im Dezember entscheiden.
Mal sehen, ob die Brüsseler Kommission und die Mitgliedsländer auf den Trichter auch kommen?