Von Reinhard Bütikofer
Zu seiner Amtseinführung hat der neue US-Präsident Barack Obama eine beeindruckende Rede gehalten. Einzelne Formulierungen, die er fand, könnten sprichwörtlich werden. Doch jenseits rhetorischen Glanzes gewann seine Rede ihre Kraft daraus, dass sie auf nichts Geringeres zielte als darauf, das Versprechen der Demokratie in Amerika zu erneuern. Obama zitierte Präsident Lincoln nicht mit dessen berühmten Worten aus der Gettysburg Adress: „government of the people, for the people, by the people“. Aber vor über einer Million Menschen appellierte er an die innere Kraft dieses Ideals.
Um am Fuß des Kapitols die Amtseinführung mitzuerleben und wenigstens einige ferne Blicke auf das Podium werfen zu können, von dem aus Obama sprach, musste man sich früh auf den Weg machen. Der schwarze Busfahrer zur Metrostation im Washingtoner Vorort verzichtete zur Feier des Tages aufs Fahrgeld. Die Metro war schon vor sechs Uhr sehr gut gefüllt. Im weiten Umfeld des Kapitols waren die Straßen für die Fußgänger abgesperrt. Und schnell staute sich alles. Wo ich mich anstellte, warteten Tausende, die alle ein lila Zugangsticket hatten, viele Stunden. Einzelne fragten bei einer SMS-Nummer, die die Obama-Truppe in Umlauf gebracht hatte, nach, warum es nicht voran gehe, und lasen die vertröstenden Antworten laut vor. Nach viereinhalb Stunden Warten in der Kälte war ich schließlich „drin“.
Strategie der Umarmung
Es herrschte eine erwartungsvolle Stimmung, bereit, sich für das zu begeistern, was die meisten nur auf überdimensionierten Bildschirmen sehen konnten. Bill Clinton wird angesagt – großer Beifall. Laura Bush und Lynn Cheney ernten Rufe: „Und tschüss, Leute!“ Als George W. Bush und Dick Cheney selbst kommen, wird es lauter: „No!“ Eine ältere Frau sagt empört: „Das geht nicht, den Präsidenten nicht zu achten.“ Andere rufen: „Werft Schuhe!“
Als Rick Warren, der umstrittene konservative Pastor aus einer kalifornischen Gemeinde das Eingangsgebet spricht, zeigt sich, dass Obama mit dieser Wahl klug kalkuliert hat. Warren sagt, Martin Luther King werde wohl im Himmel jubeln, ob der Wahl eines schwarzen Präsidenten. Er betont, durch das Eintreten für Freiheit und allgemeine Gerechtigkeit werde Amerika vereinigt, nicht durch Religion oder Herkunft oder Rasse. Er ruft alle Amerikaner auf zusammenzustehen. Darauf kam es dem Präsidenten an: Dass ein Konservativer den 46 Prozent republikanischen Wählerinnen und Wählern, die Obama die Stimme verweigert hatten, diese Botschaft zuruft. Denn die Gefahr, dass Obamas Agenda von rechts massiv behindert wird, ist real. Obama hat sich entschieden, dieser Gefahr durch eine Strategie der Umarmung zu begegnen, nicht durch offene Konfrontation. Deshalb Rick Warren. Deshalb in der Woche vor der Amtseinführung ein Mittagessen mit bekannten konservativen Journalisten, über das hinterher ein Teilnehmer sagt, man habe dabei mit Obama mehr über Substanz gesprochen, als mit Bush in Jahren. Deshalb am Vorabend ein Dinner zu Ehren von John McCain, Obamas Gegenkandidaten, zu dem allerdings – soweit geht die Freundschaft dann doch nicht – Sarah Palin nicht eingeladen wurde.
Rede gegen den Kleinmut
Als Barack Obama nach seiner Vereidigung durch den Vorsitzenden des Obersten Gerichtshofs das Wort ergreift, kommt er schon nach wenigen Sätzen auf die Krisen zu sprechen, die die USA erleben. Obama schlägt gleich einen Pfeiler ein. Die dunklen Wolken und drohenden Gewitter seien nicht nur das Werk einzelner, die Übel wollen, die gierig und unverantwortlich sind, sondern auch das Ergebnis „unseres Fehlers“, die Zeichen der Zeit nicht rechtzeitig erkannt und nicht richtig und zukunftsfähig gehandelt zu haben. Obama vermeidet bei der Beschreibung der äußeren Gefahren das Wort „Terrorismus“. Obama verwendet seine Zeit auch nicht dazu, die Banken oder die Manager zu geißeln. Er will nicht mobilisieren, indem er bei seinen Zuhörern vor allem das Gefühl nährt, auf der richtigen Seite gegen die Feinde zu sein. Er will Menschen für die Einsicht gewinnen, dass „wir, das Volk“ neu ansetzen müssen. Obama greift den Kleinmut an, der sich mit einem Niedergang als unvermeidlich abfinde. Seine Botschaft lautet: Wir, das Volk, können die Herausforderungen bestehen, wenn wir Hoffnung über Furcht setzen, und Einigkeit über Streit.
Obamas zweites Argument lautet, man müsse, um wieder voran zu kommen, die fruchtlosen und verzehrenden dogmatischen Grabenkämpfe der Vergangenheit überwinden. Dahinter steckt mehr als Mitte-Gefühligkeit. Einige der ideologischen Fronten benennt Obama. Und er wird dabei durchaus scharf. „Kindisch“ nennt er den Streit über „big government“ oder „small government“. Das ganze Gedankengebäude, das seit Ronald Reagan vorherrschend war – je weniger Staat, desto besser – erledigt er zusammen mit dessen linkem, etatistischem Gegenstück auf schlichte Weise. Es komme darauf an, dass der Staat funktioniert. Auch den Streit um die Marktwirtschaft möchte Obama hinter sich lassen. Man dürfe den Markt, kreativ wie er sei, nicht sich selbst überlassen, sonst könne er außer Kontrolle geraten. Tatsächlich handelt es sich bei diesen Grundsätzen um einen Gezeitenwandel. Reagan ist out, Roosevelt gilt wieder. Es ist eine grundlegende Wende nach links, aus Vorsicht explizit in pragmatischer Sprache präsentiert. Aber die Kämpfe darum werden heftig sein. Darüber dürfte sich auch Obama, bei aller Versöhnungsrhetorik, nicht täuschen. Nicht nur Republikaner werden Widerstand leisten, auch konservative Demokraten, „blue dogs“ genannt. Obama ist, das zeigt sich in seiner Haltung, offenkundig ebenso bei Reagan in die Schule gegangen, wie er aus Bushs Niedergang gelernt hat. Ersterer hatte auch deshalb Erfolg, weil er seine eigene Ideologie als pragmatisch-plausiblen Common Sense verkaufen konnte. Letzterer scheiterte auch deshalb, weil seine Ideologie sich als Eiferei enttarnte. Obama wird alles zu vermeiden suchen, was ihn in die Falle einer neuen Eiferei führen könnte. Aber eine grundlegende Wende will er.
„Remake America“
Obama setzt sich ausdrücklich mit denen auseinander, die argumentieren, man dürfe sich nicht zu viele große Herausforderungen zugleich vornehmen. Er schilt sie Zyniker. (Ich muss an die Kanzlerin denken, die wegen der Finanz- und Wirtschaftskrise den Kampf gegen den Klimawandel wieder auf nachrangige Plätze verweist.) Obama sagt: „Wir haben nicht zu viele großen Pläne. (…) Der Boden hat sich unter unseren Füssen bewegt.“ Nur wer auf fundamentale Erneuerung in vielen Bereichen ziele, handle verantwortlich. „Seid realistisch, verlangt das Unmögliche“, haben die Spontis vor 40 Jahren gefordert. Obama übersetzt das in eine allgemeinverständliche Sprache und – legt für seine Regierung die Latte hoch: „Wir müssen den Staub aus den Kleidern klopfen und ‚remake’ Amerika.“ „Erneuern“ wäre zu schwach als Übersetzung für „remake“. „Neu erfinden“ ist auch nicht gemeint. Vielleicht so: Wir müssen Amerika aus seinen Wurzeln heraus neu wachsen lassen.
Ausdrücklich beruft sich Obama dabei auf klassische amerikanische Werte. Neu mögen die Herausforderungen sein und auch die Methoden, ihrer Herr zu werden; aber die alten Werte sollen gelten. Und genau an dieser Stelle, wo es um Werte geht, kommt die schärfste Abgrenzung zu Bush – ohne dabei dessen Namen zu nennen. Es gehe darum „das elementare Vertrauen zwischen dem Volk und seiner Regierung wiederherzustellen“. Riesenjubel der Zuhörerschaft! Es sei „falsch, dass wir zwischen unserer Sicherheit und unseren Idealen wählen müssten“. Eine Zeile, die bleiben wird! Noch größerer Jubel! Da ist alles drin, Guantanamo und Abu Ghreib und illegale Abhörmaßnahmen – und und.
Das ist einer der emotionalen Höhepunkte der Rede.
Amerika als Partner
Auch außenpolitisch verspricht Obama eine neue Perspektive. Faschismus und Kommunismus, daran erinnert er, seien nicht nur durch militärische Überlegenheit besiegt worden. Und er zieht die Schlussfolgerung: „Unsere Sicherheit erwächst aus der Gerechtigkeit unserer Sache.“ Ohne eine sehr robuste, militärische Seite der Außenpolitik irgendwie in Frage zu ziehen, legt Obama den Akzent anders. Bill Clinton hatte es in Denver beim Parteitag der Demokraten schon schön gesagt. Entscheidend sein soll „die Macht unseres Beispiels, nicht das Beispiel unserer Macht“. Die vier außenpolitischen Themen, die erwähnt werden, sind Irak, Afghanistan, Abrüstung und Klimawandel. Europa kommt nicht besonders vor. Es wird auch bei diesem neuen Präsidenten lernen müssen, dass es nur in dem Maß für die US-Außenpolitik relevant sein wird, wie es sich in der Lage zeigt, zur Bewältigung der globalen Herausforderungen mehr beizutragen als Kommentare. Ausdrücklich wendet sich Obama allerdings an die islamische Welt und bietet ihr einen neuen Weg nach vorne an, „gegründet auf gemeinsamen Interessen und gegenseitigem Respekt“. Wenigstens erwähnt werden „die Armut jenseits unserer Grenzen“ und der bedenkenlose Umgang mit Rohstoffen, die nicht länger ignoriert werden dürften. Obama kündigt in dieser Rede keine Initiativen an, er verlangt, indem er es verspricht, von den USA eine neue Haltung in der Außenpolitik: Amerika als Partner. Das wird nicht einfach, ist aber eine große Verheißung für alle Freunde der USA und die größte denkbare Herausforderung an alle Gegner.
Eine neue Ära der Verantwortung
Schließlich kehrt Präsident Obama zu dem Thema zurück, das der Wahlkämpfer Obama zwei Jahre lang gepredigt hatte. Es ist das Thema der Verantwortung aller Bürgerinnen und Bürger für sich selbst, ihre Gesellschaft, ihren Staat und ihre Welt. Wie oft hatte Obama in Reden davon gesprochen, dass die Hoffnung auf Wandel darin begründet sei, dass viele Menschen sich engagierten. Damit hatte er besonders die Jungen erfasst. Nun, wo es ums Regieren geht, fasst er dieselbe Botschaft in das Wort der Verantwortung. Er fordert eine „neue Ära der Verantwortung“. „Letztendlich“ komme es auf das Volk an. Er appelliert an einen „Geist des Dienens“, daran, etwas Größeres zu kennen als sich selbst. „This moment will define a generation“, sagt Obama. Er hofft es.
Nachdem die Amtseinführung schon zu Ende gegangen war, gab es noch einmal einen besonders starken Applaus. Er galt den Bildern von Ex-Präsident Bush, der einen Hubschrauber bestieg, auf dem Weg nach Texas. Als der Hubschrauber über die Menge hinwegflog, gab es ein Riesen-Hallo: Endlich sind wir den los.
Auf der Straße nach der Rede ist die Stimmung fröhlich. Die Reaktionen sind vielfältig. Zwei Männer zeigen ein Transparent mit der Aufschrift „We have overcome“. Einer verkauft T-Shirts mit dem Slogan: „Everything’s better with Obama“. Eine Bekannte sagt: „Der arme Obama. Morgen früh muss er aufstehen und etwas tun.“ Obama will sich als erstes mit Militärs und Sicherheitsberatern treffen.
Reinhard Bütikofer war von 2002 bis 2008 einer der beiden Bundesvorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen
Bildnachweis: “The Speech” von Kaptain Krispy Kreme – Lizenz: CC-BY-NC-SA