Willkommen im Superwahljahr 2024!
In vielen Ausblicken auf das neue Jahr konnte man lesen, noch nie seien innerhalb eines Kalenderjahres so viele Menschen weltweit aufgerufen gewesen, in ihren Ländern eine neue politische Führung zu wählen. Hier ist eine Liste, die man im Internet finden kann: Bangladesch / Taiwan / Komoren / Tuvalu / Finnland / El Salvador / Mali / Aserbaidschan / Indonesien /Senegal / Belarus /Iran / Portugal / Russland / Peru / Indien / Salomonen / Südkorea / Österreich / Slowakei / Litauen / Panama / Dominikanische Republik / Island / Mexiko / Europäische Union / Mauretanien / Mongolei / Ruanda / Litauen / Mosambik / Georgien / Uruguay / USA / Palau / Namibia / Mauritius / Rumänien / San Marino / Belgien / Moldau / Kroatien / Georgien / Algerien / Normazedonien / Pakistan / Togo / Südafrika / Ghana / Sri Lanka / Südsudan. Dazu kommen noch Kommunalwahlen, Regionalwahlen, Volksabstimmungen. Die eigentlich anstehende Wahl in der Ukraine wurde wegen des Krieges verschoben.
Nun sind gewiss nicht alle diese Wahlen von der gleichen politischen Qualität. Die „Wahl“ in Russland zum Beispiel, bei der es sich tatsächlich um eine absurde Inszenierung zur Scheinlegitimierung einer Diktatur handelt, gehört eigentlich nicht wirklich in diese Liste. Doch der Gesamtüberblick wird interessant, denn in einer Zeit, in der es oft heißt, dass weltweit die Zahl demokratischer Verfassungen abnehme und die Zahl autokratischer Regime wachse, ist es spannend, welchen Einfluss alle genannten Wahlen auf diesen Großtrend nehmen. Werden wir eventuell danach weltweit weniger Demokratie haben?
Die amerikanische Präsidentschaftswahl am ersten Dienstag des November 2024 wirft ganz besondere Schatten voraus. Bei kaum einer Diskussion, die ich im Laufe dieser Woche in außenpolitischen Angelegenheiten hatte, blieb dies Thema ganz ausgespart. „Trump oder nicht Trump, das ist die Frage“, ist man versucht zu resümieren. Die möglichen weltweiten Folgen einer Wiederwahl von Donald Trump werden allenthalben in sehr düsteren Farben beschrieben. Und Kandidat Trump scheint mit all diesen Schreckensszenerien geradezu zu spielen. Er habe gesagt, keinesfalls werde er Europa zur Hilfe eilen, sollte dieses angegriffen werden, so wird berichtet. Die Nato sei tot, soll er auch gesagt haben. Zwei Aussagen, die, wenn man sie ernst nimmt, in Europa gewiss mehr als nur Fracksausen verursachen müssen. Trump sagt auch immer wieder, er werde ein Diktator sein, allerdings, so fügt er dann gerne hinzu, nur am ersten Tag. Aus Trumps Umfeld verlautet mehrfach, er werde nach einer Wahl die 20.000 – 50.000 wichtigsten Beamtinnen und Beamten in den amerikanischen Bundesbehörden durch eigene radikale Parteigänger ersetzen; entscheidendes Qualifikationskriterium werde dabei die persönliche Loyalität gegenüber Donald Trump sein. Seine politischen Gegner werde er verfolgen, vor Gericht und ins Gefängnis bringen. US-Präsident Biden, der, wenn er nicht vorher stirbt oder sterbenskrank wird, der Präsidentschaftskandidat der Demokratischen Partei sein wird, hat sich schon veranlasst gesehen, vor dem Diktator Trump öffentlich zu warnen. Droht da die älteste Demokratie an ihr Ende zu kommen und damit zugleich jegliche Verantwortung der USA für globale Stabilität, für eine wenigstens ansatzweise regelbasierte internationale Ordnung und für die Solidarität unter Ländern, die sich demokratischen und menschenrechtlichen Grundsätzen verpflichtet sehen, zu verschwinden? Das wäre zweifellos eine welthistorische Zäsur. Das bedeutete eine dramatische Schwächung demokratischer Ordnungen weltweit, nicht wahr?
Sein Kokettieren mit offenkundigen und brutalen Verstößen gegen die demokratischen Regeln Amerikas scheint Trump in seiner Wählerschaft bisher nicht zu schaden. Momentan liegt er in Umfragen deutlich vor Biden. Für einen großen Teil der Wählerinnen und Wähler in den USA scheint zu gelten, dass sie sich mehr Sorgen machen vor einem altersschwachen Präsidenten Biden als vor einem aggressiven Demokratieverächter. Ich fürchte, je mehr sich die Demokraten darauf konzentrieren, nach der Melodie eines abstrakten Demokratismus vor dem bösen Möchtegern-Diktator Trump zu warnen, desto mehr untergraben sie die Chancen dafür, den MAGA-Kapitän doch noch zu besiegen. Eine Wahl ist nunmal kein politologisches Seminar.
Viele Menschen, die von den Skandalen in ihrem politischen System, von wachsender sozialer und kultureller Spaltung, von dem Umgang mit Rassenkonflikten, von der Selbstverliebtheit und Eigensucht vieler Eliten schon lange angewidert sind, werden sich für Trump entscheiden, und zwar nicht nur solche, die selbst von Hass, rechtsradikaler Gesinnung, Frauenfeindlichkeit oder Rassismus motiviert werden. Der Prozentsatz der Schwarzen und der Latinos, die diesmal Trump wählen könnten, scheint zuzunehmen. Trump hat es geschafft, sich mit seiner Anti-Establishment-Rhetorik, mit seiner korrupten Rücksichtslosigkeit, mit seinem bewussten Spiel mit Grenzüberschreitungen und mit dem Aufbau eines Mythos vom kühnen Anführer in eine Position zu bringen, von der aus er tatsächlich gegenüber Biden mehrheitsfähig sein könnte.
Gewiss, das ist nicht ausgemacht. Zwar wird Trump mit Sicherheit beim ersten Kandidatenrennen in dem extrem konservativen Staat Iowa mit Abstand siegen, aber es ist nicht ausgeschlossen, dass Nikki Haley, seine ehemalige UNO-Botschafterin, dann danach in New Hampshire obsiegt und vielleicht auch im dritten Staat, South Carolina, wo sie einmal Gouverneurin war. Das könnte Trumps scheinbare Unbezwingbarkeit in Zweifel ziehen. Wenn dann noch in den zahlreichen juristischen Verfahren, die Trump mit sich herumschleppt, gewichtige Entscheidungen gegen ihn fallen sollten, könnte auch das die Dynamik ändern. Glücklicherweise ist es schließlich nicht unmöglich, dass die Demokratische Partei doch noch auf Betriebstemperatur kommt und sich mehr darum kümmert, mit glaubwürdigen Beispielen und Argumenten dafür zu werben, dass das Leben mit Biden besser werden kann, als es derzeit ist, statt vor allem darüber zu greinen, dass so ein Drecksack wie Trump tatsächlich die Chance hat zu gewinnen. In den USA gibt es den Spruch: „You can’t beat something with nothing!“ Das heißt, dass es politisch keine erfolgreiche Strategie ist, nur an dem Angebot des politischen Gegner herumzukritisieren oder es zu verteufeln, wie schlimm es auch sein möge, solange man nicht auch halbwegs glaubwürdig argumentieren kann, dass man selber ein besseres Angebot vorzuweisen hat.
Europäer, die auf Trumps drohende Wiederwahl starren wie das Kaninchen auf die Klapperschlange, machen, wenn man es sich genau überlegt, einen ganz ähnlichen Fehler wie viele US-Demokraten. Sie verfangen sich in ihren Ängsten, manche suhlen sich geradezu darin, statt sich die einzig relevante Frage zu stellen: Und was können wir selbst tun? Die Hochstilisierung der amerikanischen Präsidentschaftswahl zu einer Art welthistorischem Gottesgericht über die Zukunft der Demokratie ist eine bequeme Ausflucht gegenüber der Frage, ob es nicht, selbst wenn dieses Verhängnis eintreten sollte, Wege geben kann und muss, zu verhindern, dass es in eine auch uns verschlingende Großkatastrophe mündet.
Angenommen, ein wiedergewählter Trump werde an Tag eins im Weißen Haus jegliche Unterstützung für die Ukraine einstellen und ankündigen, dass er beim nächsten G7-Gipfel den Ausstieg aus der Nato erläutern werde. Das muss ja nicht zwangsläufig dazu führen, dass wir Europäer auch den Schwanz einziehen vor Putins Aggression. Es könnte auch beantwortet werden mit einer kühnen Verabredung der EU-Staaten, der Briten und der Norweger, dass wir alles liefern werden, was erforderlich ist, damit Putin nicht durchkommt: „Whatever it takes“.
Es kann ja sein, dass Trump die amerikanische Handelspolitik, bei der ihm Biden übrigens fast einhundert Prozent gefolgt ist, nur mit schöneren Worten verziert, in einer zweiten Amtszeit noch einmal radikalisiert, aber das muss nicht dazu führen, das Europa kuscht. Wir könnten auch mit anderen Partnern, die von einer solchen extrem protektionistischen amerikanischen Handelspolitik auch betroffen wären, gemeinsam eine Antwort entwickeln und dabei auch Partner aus dem Globalen Süden einschließen. Allerdings werden wir dazu kaum in der Lage sein, wenn wir jetzt mit behäbigem Fatalismus darauf warten, ob die Schlange zuschnappt.
Europa müsste, und dafür böte der anstehende Europawahlkampf viel politischen Raum, ernsthaft über einen Plan B nachdenken, gemeinsam, nicht jeder der 27 EU-Zaunkönige für sich selbst. Aus dieser Perspektive betrachtet relativiert sich die vermeintlich alles andere völlig verdrängende Bedeutung der amerikanischen Präsidentschaftswahl. Die Frage, welchen Weg Europa einschlägt, für welche Politiken wir uns entscheiden, um unseren eigenen Herausforderungen gerecht zu werden und auch den internationalen Risiken, das ist eine Frage, welche nicht nur über das Ängstlichsein hinweghilft, sondern uns auch gemeinsam mit Wertepartnern, zu denen ein Trump eben nicht gehört, eigene Zukunftsgestaltung anpacken lässt. Etwas überspitzt gesagt: Nur wenn wir aus alter Gewohnheit im Attentismus verharren, anstatt die eigenen Kräfte und eine wirksame Kooperation mit Partnern entfalten, nur dann ist Trump der absolute Trumpf.
Um das klarzustellen, ich bin immer noch nicht überzeugt, dass der nächste amerikanische Präsident Donald Trump heißen wird. Es kann sein, dass dieser Kelch an uns vorübergeht. Aber nach der Logik des alten Satzes, dass man sich, um den Krieg zu vermeiden, darauf vorbereiten solle, müssen wir Europäer uns sagen, dass wir, um zu vermeiden, gegebenenfalls neben der amerikanischen Demokratie zu einem zweiten Opfer dieses kriminellen Großmauls zu werden, uns darauf vorbereiten müssen, dass er gewählt werden könnte. Das würde allerdings ganz andere politische Diskussionen erfordern, als wir sie mit Blick auf den anstehenden Europawahlkampf bisher haben.
Sonst noch:
Dem MDR habe ich ein Radiointerview zur Unterstützung der Ukraine gegeben.
In der letzten Woche habe ich dem Deutschlandfunk das Interview der Woche gegeben. Themen waren die anstehenden Wahlen in Taiwan, die deutsche und die europäische Chinapolitik und ein mögliches AfD-Verbot.
Diese Woche war eine sogenannte „Group and Committee“ Woche in Brüssel. Als deutsche Grüne Delegation haben wir uns außerdem getroffen, um uns mit den Bundesvorsitzenden auszutauschen und einen Blick auf die anstehenden Aufgaben zu werfen.
Am Freitag bin ich auf der Messe Hannover als Speaker digital zum Thema „EU Green Deal in Focus“ geladen.
In der nächsten Woche tagt das Europäische Parlament zum ersten Mal in diesem Jahr in Straßburg. Hier geht es zur regelmäßig aktualisierten Tagesordnung.