Am 13. Januar finden in Taiwan Präsidentschaftswahlen statt sowie Wahlen zum Parlament, dem Gesetzgebenden Yuan. Bei der letzten Wahl vor vier Jahren errang die Democratic Progressive Party (DPP) einen überragenden Sieg. Doch mit damals ist die Lage von heute nur schwer zu vergleichen.
Die DPP-Kandidatin, Tsai Ing-wen erhielt 2020 bei ihrer Wiederkandidatur nach vierjähriger Amtszeit mehr Stimmen als je ein Präsidentschaftskandidat davor. Die DPP sicherte sich auch eine Mehrheit im Parlament. Damit hatte das grüne Lager, grün ist die Parteifarbe der DPP, über das blaue Lager der Kuomintang (KMT) triumphiert. Die Kuomintang, ursprünglich 1912 von Sun Yat-sen in China gegründet, hatte Taiwan nach dem chinesischen Bürgerkrieg zunächst jahrzehntelang unter der Diktatur von Chiang Kai-shek regiert, dann den Übergang zur Demokratie ermöglicht, die Regierung zum ersten Mal im Jahr 2000 an die DPP verloren, aber 2008 bis 2016 unter Präsident Ma Ying-jeou wieder dominiert. In der über 25-jährigen Geschichte der Demokratie Taiwans war immer die Alternative bestimmend zwischen der grünen DPP, die als Peking-fern bis Peking-feindlich gilt, und der blauen Kuomintang, die als Peking-verträglich bis Peking-zugeneigt angesehen wird.
Das eindeutige Ergebnis von 2020 ist nur zu verstehen vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen, die damals die Entwicklung in Hongkong prägten. Chinas rabiate Unterdrückung der starken Demokratiebewegung dort demonstrierte, wie illusorisch die Hoffnung geworden war, es könnte unter Pekinger Oberhoheit auf Dauer eine demokratische Selbstbestimmung Hongkongs geben. Damit war die noch aus Deng Xiaopings Zeit stammende Formel „Ein Land, zwei Systeme“, die eine auf 50 Jahre angelegte politische Garantie eines hohen Maßes an Selbstbestimmung für Hongkong versprach, faktisch zu den Akten gelegt. „Ein Land, zwei Systeme“, das ist allerdings auch die Parole, unter der die Volksrepublik eine sogenannte „friedliche Wiedervereinigung“ mit Taiwan betrieb und bis heute betreibt. Vor dem Hintergrund der dramatischen Hongkonger Ereignisse gelang es Präsidentin Tsai, die DPP als Garant dafür zu präsentieren, dass Taiwan eine ebensolche Vergewaltigung durch die kommunistische Führung in Peking erspart bleiben würde. 2020 war in Taiwan eine Hoffnungswahl. Allein auf die Bilanz ihrer vorherigen vier Jahren in der Regierung bezogen, hätte die DPP den damaligen Wahlsieg nicht gewonnen. Die Hoffnung, dass die DPP eine selbstbestimmte Zukunft Taiwans sichern könne, gab den Ausschlag. Eine große Mehrheit der Wählenden folgte der DPP, weil sie deren Botschaft akzeptierte, es gehe um eine Wahl zwischen demokratischer Selbstbestimmung und Pekinger Fremdbestimmung.
Heute ist die Lage ganz anders. Die Erinnerung an die Hongkonger Demokratiebewegung ist in den Hintergrund getreten. In Hongkong herrscht eine politische Friedhofsruhe. Peking hat über die letzten Jahre zugleich den Druck gegenüber Taiwan vielfach verstärkt. Diplomatische Verbündete Taipehs wurden abgeworben. Durch ökonomische Sanktionen wurden immer wieder Nadelstiche gesetzt. Die militärischen Drohgebärden Chinas gegenüber Taiwan haben an Intensität außerordentlich stark zugenommen. Chinas Einmischung durch Cyberattacken und Informationsmanipulation ist eine beständige Realität; in Taiwan spricht man in diesem Zusammenhang von „cognitive warfare“. Auch jetzt bei der anstehenden Wahl mischt China sich ein. Der stellvertretende taiwanische Außenminister Roy Chun Lee spottete, er habe den Eindruck, das KP Chinas so gerne an der taiwanesischen Wahl teilnehmen wolle, dass man sich fragen müsse, warum sie nicht ihre eigene Wahl organisiere, in China.
In Chinas Propaganda ist die DPP eine Bande von Vaterlandsverrätern, von Separatisten, die das heilige China spalten wollen und deshalb mit Stumpf und Stiel beseitigt werden müssen. Peking sagt immer noch, man ziehe eine „friedliche Wiedervereinigung“ vor, aber niemand kann sich mehr vorstellen, dass dabei etwas anderes herauskommen könnte, als das in Hongkong der Fall war, nämlich eine schlichte Unterordnung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft unter die Diktatur der Kommunistischen Partei. Für den Fall, dass eine friedliche Wiedervereinigung nicht gelinge, droht Peking mit militärischem Zwang. Diese Option hatte die KP Chinas zwar nie ausgeschlossen, aber sie ist seit 2020 viel mehr in den Vordergrund gerückt worden. Das hat sich ja auch bis nach Europa herumgesprochen, wo heute viele Taiwandiskussionen um die Frage kreisen, wann wohl die chinesische Armee gegen Taiwan losschlagen werde. 2027? 2035?
Der Kuomintang ist es zu einem großen Teil gelungen, die anstehende Wahl vor diesem Hintergrund als eine Wahl über Krieg und Frieden zu präsentieren. Friedenserhalt, so argumentiert sie, sei leicht möglich, wenn sie selbst ein verträglicheres Verhältnis mit Peking realisieren werde. Krieg drohe dagegen, sofern die DPP weiter am Ruder bleibe. War die letzte Wahl vor allem eine Wahl der Hoffnung, so wird diese Wahl stärker eine Wahl der Angst. 80 Prozent der Menschen in Taiwan sagen, dass sie einen wachsenden Druck von China her empfinden. Der Wahlkampf der DPP, der ohnehin gegen die Regel ankämpfen muss, dass seit dem Beginn freier Wahlen noch nie eine Partei dreimal nacheinander gewann, der auch belastet ist durch Enttäuschungen über die Politik der Regierungen der letzten Jahre, muss sich nun auch noch bewähren in einem Framing, das die Opposition gesetzt hat. Der Präsidentschaftskandidat der DPP, der bisherige Vizepräsident Lai Ching-te versucht, das Argument zu machen, das nur eine starke Selbstbestimmung Taiwans den Krieg verhindern könne. Aber damit hat er bisher die Mehrheit der Wahlberechtigten nicht überzeugen können.
Trotzdem sind die Chancen groß, dass Lai der nächste Präsident wird. Die Opposition hat es nämlich geschafft, sich durch Rivalitäten so zu schwächen, dass der DPP weniger Stimmen als sie je in Präsidentschaftswahlen erhielt, zum Sieg mit relativer Mehrheit ausreichen könnten. Für die Wahl zum Parlament dagegen erscheint eine DPP-Mehrheit ausgeschlossen. Es ist ganz erstaunlich und bot den Stoff für ein außergewöhnliches Spektakel, wie die Opposition sich zerlegte, obwohl bei geeintem Vorgehen eine große Chance auf einen Sieg in der Präsidentenwahl bestand.
Tatsächlich hat die in sich selbst zerklüftete Kuomintang mit dem Bürgermeister von New-Taipeh, Hou Yu-ih, einen Kandidaten aufgestellt, der als ehemaliger Polizist durchaus eine gute Popularität genießt, aber nicht alle Fraktionen wirksam hinter sich vereinigen konnte. Das versuchte der ehemalige Bürgermeister von Taipeh Ke Wen-je von der Taiwan People’s Party (TPP) auszunutzen. Die kleinere TPP steht der Kuomintang deutlich näher als der DPP. Sie bietet sich an als politische Kraft, die den ewigen Wechsel zwischen blau und grün durch eine neue Farbe, weiß beleben kann. Ke Wen-je tritt als Mann auf, der gerne auch mal gegen den Komment verstößt, als einer, der Dinge ausspricht, die andere nur andeuten, als einer, der frischen Wind bringt. Entsprechend gelang es ihm, zu Beginn des Wahlkampfes bessere Umfrageergebnisse zu erzielen als Hou; dafür war Kes Resonanz bei JungwählerInnen besonders wichtig. Schließlich gesellte sich zum Kandidatenpotpourri auch noch Terry Gou, der Gründer des Foxconn Konzernes, der zuvor vergeblich die Nominierung durch die Kuomintang angestrebt hatte.
Wahlumfragen zeigten, dass die drei Oppositionskandidaten zusammengenommen auf deutlich mehr als die Hälfte der Stimmen rechnen könnten, aber keinem gelang es dabei, oppositionsintern einen deutlichen Vorsprung zu erwirtschaften und Vizepräsident Lai auf die Pelle zu rücken. Also gab es erst Spekulationen über ein gemeinsames Oppositionsticket, dann vielfältige Rufe nach einem solchen, dann komplizierte Verhandlungen darüber, wie es aussehen könnte, und dann schließlich eine Verabredung, dass man eine gemeinsame Kandidatur präsentieren werde, um die DPP zu schlagen. Doch kaum hatten sich die Prätendenten scheinbar geeinigt, zerfiel alles wieder. Terry Gou schied aus dem Wettrennen aus, nachdem Peking ihm durch die Einleitung peinlicher Untersuchungen bei seinem Foxconn Konzern, der sehr stark in China investiert ist, bedeutet hatte, wie sehr dort eine Zersplitterung der blauen Opposition auf Missfallen stieß. Ke Wen-je, der zwar eine sehr starke Persönlichkeit hat, aber keine starke Partei und so gut wie gar kein Programm, verzockte sich im Gerangel mit der Kuomintang, in dem er zunächst zu viele Zugeständnisse machte, die seinen Maverick-Status beschädigten, und dann mit extrem spitzen Ellenbogen zurückruderte. Die Kuomintang taktierte geschickter, ließ sich von Ke öffentlich demütigen und scheint jetzt in der Lage zu sein, daraus die Kraft zu schöpfen, die Hou Yu-ih zum Hauptwettbewerber für Lai macht. Nicht ungeschickt war auch, dass Hou einen Vizepräsidentenkandidaten wählte, der die klassische Kuomintang repräsentiert, welche ihm gegenüber gewisse Vorbehalte hatte.
Wenn ich in meine Kristallkugel schaue, dann sehe ich dort, dass Hou in den Umfragen Lai näher rücken wird, Lai aber am Ende mit einem vergleichsweise schwachen Ergebnis die Nase vorne behält. Im Parlament dagegen sollte die jetzige Opposition gewinnen. Zwischen dem Wahltag im Januar und der Amtseinführung des neuen Präsidenten im Mai sehen viele BeobachterInnen das Risiko eskalierenden chinesischen Drucks. Wird China das Economic Cooperation Framework Aggreement (ECFA) ganz oder teilweise aussetzen, was der stark auf China ausgerichteten taiwanesischen Wirtschaft erheblich Schaden könnte? Wird China seine militärischen Drohgebärden eskalieren und zum Beispiel mit Marineeinheiten näher an die taiwanesischen Küsten heranrücken? Wird China seine Agenten in Taiwan, die es sicher in großer Zahl gibt, Unruhe stiften lassen? Dazu sagt meine Kristallkugel nichts. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass Pekings Vorgehensweise rücksichtsloser sein wird, je weniger man dort damit rechnen muss, auf entschiedene Opposition der Freunde Taiwans zu stoßen. Deshalb ist es so wichtig, das auch europäische Stimmen klarmachen: Unser Bekenntnis zu Frieden und Stabilität ist nicht nur ein bedeutungsloser Sermon; Peking muss mit deutlichen Reaktionen rechnen, wenn es diese Stabilität untergräbt. (Ich hoffe, das beim EU-China Gipfel dieses Thema von europäischer Seite sehr klar angesprochen wird.)
Als Kandidat verspricht Lai Ching-te die Fortsetzung der Politik von Präsidentin Tsai gegenüber China. Doch das wird nicht einfach. Taiwans Bevölkerung ist mit übergroßer Mehrheit für die Bewahrung des gegenwärtigen politischen Status Quo. Gleichzeitig wächst die Zahl derer, die sich fragen, wie dieser wirksam verteidigt werden kann. Nur eine kleine einstellige Minderheit spricht sich für Chinas „friedliche Wiedervereinigung“ aus. Vielleicht 10 oder 15 Prozent sind für Unabhängigkeit. Nur etwa ein Drittel der Befragten vertraut fest auf verlässliche Unterstützung durch die USA. Präsidentin Tsai Ing-wen hat in ihren 8 Jahren im Amt bezüglich der Sicherung von Taiwans selbstbestimmter demokratischer Zukunft einen klugen Kurs gesteuert. Für den Nachfolger jedoch warten gefährliche Herausforderungen, weil die durch Nationalismus geschürte Pekinger Ungeduld wächst. Erkennbar hat Xi Jinping sich fest vorgenommen, Taiwan dem eigenen Herrschaftsbereich einzuverleiben, bevor er abtreten muss, um im Jenseits Marx zu begegnen. Ich glaube keinesfalls, dass eine militärische Eskalation um Taiwan unvermeidlich ist. Doch um sie zu vermeiden, müssen Taiwans demokratische Partnern, die EU eingeschlossen, eine mutigere, klarere, entschiedenere Politik der Solidarität an den Tag legen als bisher.
Nach dem 13. Januar wird diese Diskussion gewiss Fahrt aufnehmen.
Sonst noch
Bei der Bundesdelegiertenkonferenz in Karlsruhe wurde die Thüringer Kandidatin Viola von Carmon auf den aussichtsreichen 15. Listenplatz gewählt. Herzlichen Glückwunsch!
Am Rande des Parteitags habe ich dem Sender Phoenix ein Interview zum Thema Nahost gegeben.
Am Montag habe ich auf einer Veranstaltung der Landesvertretung Bayers in Brüssel als Speaker zur Frage „Welche Handelsstrategie brauchen wir nach der Europawahl“ gesprochen.
Am Dienstag und Mittwoch habe ich am Taiwan Trilateral Forum des German Marshall Funds (GMF) teilgenommen und auf einer Podiumsdiskussion zum Thema „European Politics,Elections, and Implications“ gesprochen.
Am Freitag nehme ich an der Mitgliederversammlung der Heinrich Böll Stiftung in Berlin teil. Mit dieser Sitzung scheide ich aus der Mitgliederversammlung der Böll Stiftung aus.
Am Samstag bin ich als Speaker auf einer virtuellen Tagung des BUND Arbeitskreises Wirtschaft und Finanzen zum Thema „Zukunftsfähiges Deutschland in der Systemkonkurrenz“ eingeladen.
Von Sonntag bis Dienstag nehme ich am Stockholm China Forum in Singapur teil.