30 Jahre BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN | BÜTIS WOCHE #250

Bevor es vor 30 Jahren zum Zusammenschluss zwischen Grünen und einem großen Teil der DDR-Bürgerbewegung kam, gab es meiner Erinnerung nach da und dort durchaus kontroverse Diskussionen. Von heute aus gesehen war dieser Zusammenschluss ohne Zweifel ein entscheidender Glücksfall. Ohne ihn gäbe es die Bündnis-Grünen wahrscheinlich nicht als die einflussreiche Partei, die wir geworden sind.

Die westdeutschen Grünen hatten es bei der Bundestagswahl 1990 nicht über die 5-Prozent-Hürde geschafft, so dass nur acht Abgeordnete von BÜNDNIS 90 unter Führung von Werner Schulz die grün-bürgerbewegten Farben im Bundestag vertraten. Ich erinnere mich, dass ich damals einen Teil der Wahlkampfzeit in Sachsen verbrachte, um die dortigen Freundinnen und Freunde mit Hilfe aus dem starken Baden-Württemberg zu unterstützen. Dass wir selbst ein gutes Wahlergebnis erzielen würden, erschien mir als ausgemacht. Ich hatte zu meinem sächsischen Wahlkampfeinsatz ein Referat über grüne Wirtschaftspolitik mitgebracht, das aber wenig zum Einsatz kam und dort, wo ich daraus vortrug, eher distanziertes Interesse erfuhr. Die Menschen, auf die ich in Veranstaltungen mit Werner Schulz und mit Wolfgang Ullmann stieß, hatten andere Prioritäten. Ihnen ging es vor allem darum, sich in der ungewohnten bundesrepublikanischen Realität überhaupt zurechtzufinden und da waren Schulz und Ullmann grandiose Brückenbauer und Ratgeber.

Das Wahlrecht, für das wir beim Verfassungsgericht erfolgreich gekämpft hatten, führte dazu, dass sie Mitglieder des Bundestages wurden, wir westdeutschen Grünen aber draußen bleiben mussten.

Rückblickend kann man sagen, dass unsere bittere Niederlage eine der Voraussetzungen für den Erfolg des Zusammenschlusses von BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN wurde. Wir westdeutschen Grünen hatten zwar keine friedliche Revolution gemacht, aber trotzdem wussten wir so vieles besser als die lieben Kolleginnen und Kollegen aus dem Osten. Zahlenmäßig waren wir mit großem Abstand überlegen. Wir waren insgesamt eindeutig „linker“ als die ostdeutschen Konterparts. Deswegen waren keineswegs auch alle überzeugt, dass wir genau diesen Weg des Zusammenschlusses gehen sollten. Ludger Volmer, damals eine sehr wichtige Größe bei den Grünen, trauerte noch viele Jahre danach darum, dass wir nicht stärker auf linkere Strömungen aus Ostdeutschland zugegangen waren, auf Leute, die dann die Linkspartei mit prägten. Doch solche Vorstellungen ließen sich nicht durchsetzen. Das lag zum einen an der Delle, die die Wahlniederlage dem westgrünen Selbstbewusstsein zugefügt hatte, zum anderen an der außerordentlich bewundernswerten Leistung der Achtertruppe im Bundestag und zum dritten daran, dass durchaus von unten her einiges zusammenwuchs. So hatte es die Vereinigung von Bürgerbewegungen und Grünen zu einer gemeinsamen Partei im Land Sachsen schon vor dem Zusammenschluss auf Bundesebene gegeben.

Der Zusammenschluss zu BÜNDNIS90/ DIE GRÜNEN führte zu einer Partei, deren politischen Profil sich in einigen wesentlichen Punkten durchaus von demjenigen Profil unterschied, das die West-Grünen bis dahin ausgebildet hatten. Im grünen Vokabular vor dem Zusammenschluss spielte der Begriff Freiheit keine Rolle. Wir kannten natürlich Atomwaffenfreiheit und Gentechnik-Freiheit und viele andere grüne Freiheiten, aber „die Freiheit“ fehlte in unserem Wortschatz. Wir hatten nicht gelernt, gegen die Konservativen darum zu kämpfen, dass sie auf diese Grundorientierung kein Eigentumsrecht anmelden können. „Freiheit oder Sozialismus“ war ein Wahlkampfslogan der CDU/ CSU gewesen, als Franz Joseph Strauß Kanzlerkandidat war. Freiheit erschien auf der politischen Linken, zu der die meisten Grünen sich zählten, als ein Wort, auf das die Liberal-Konservativen das Monopol hatten. Die Vertreterinnen und Vertreter der friedlichen Revolution dagegen benutzten den Begriff Freiheit sehr selbstbewusst. Sie hatten ihre Freiheit gegen die SED-Diktatur erkämpft und natürlich bestanden sie darauf, dass diese zentrale Vokabel in dem neuen Grundkonsens, der die gemeinsamen Überzeugungen der sich zusammenschließenden Parteien ausdrückte, zentral vorkam. 

Eine Differenz gab es auch mit Blick auf die Grundauffassung vom demokratischen, politischen Wettbewerb. In Sachsen, Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Ostberlin hatten Menschen sich im Aufstand gegen die DDR-Herrschaft solidarisch verbündet, die danach in unterschiedlichen gesamtdeutschen Parteien landen sollten. Leute, die gemeinsam gegen die SED demonstriert und Stasi-Zentralen besetzt hatten, empfanden auch weiterhin ein wirkmächtiges Gefühl der Gemeinsamkeit, nach dem sie sich bei BÜNDNIS 90 oder in der CDU oder auch bei der FDP und SPD neu organisiert hatten. Sie hatten kein Verständnis für eine Praxis der politischen Auseinandersetzung, die politische Gegnerschaft mit Feindschaft gleichzusetzen geübt hatte. Sie betonten die Gemeinsamkeiten der Demokratinnen und Demokraten gegenüber jeder autoritären Negation der Demokratie.

Die Vereinigung zu BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN erzwang eine gewisse Öffnung und Neuformatierung des Selbstverständnisses der Grünen. Für unseren seither gegangenen, oft genug gewundenen Weg in Richtung Grüner Zentralität und Mehrheitsfähigkeit war das eine unverzichtbare Voraussetzung. Es dauerte dann noch mal mehr als 15 Jahre, bis sich bei den Bündnisgrünen insgesamt die Vorstellung durchsetzte, dass wir nicht einfach Teil eines wie auch immer definierten „linken“ Lagers sein könnten, sondern ein eigenständiges grünes Lager bilden wollten. Aber eine der Wurzeln dieser Entwicklung findet sich im Grundkonsens.

Nach dem Zusammenschluss von 1993 brach für die Bündnisgrünen in den „neuen“ Bundesländern eine längere politische Dürreperiode an. In Mecklenburg-Vorpommern hatten es im Jahr 1990 drei grün-bürgerbewegte Listen geschafft insgesamt 9,3 Prozent so unter sich aufzuteilen, dass keine von ihnen in den Landtag kam. In anderen ostdeutschen Bundesländern sah es zunächst besser aus. In Sachsen-Anhalt waren die Bündnisgrünen in zwei Legislaturperioden unverzichtbare Stütze für die SPD-geführte rot-rote Zusammenarbeit, um danach an dieser dienenden Rolle zu scheitern. In Sachsen, Thüringen und Brandenburg flogen wir 1994 aus den Landtagen. Es gibt ja den berühmten Spruch, wonach die Revolution ihre Kinder fresse. Das gilt, würde ich sagen, auch für die friedliche Revolution, nur dass die das eben auch friedlich erledigte, durch Abwahl. Wir mussten uns dann über viele Jahre mühsam in die ostdeutschen Parlamente zurückkämpfen. 

Heute, 30 Jahre nach dem Zusammenschluss, sind wir in Ostdeutschland immer noch wesentlich schwächer als im Bundesschnitt. Dafür kann man strukturelle Gründe benennen. Von den jungen Leuten, die besonders gern grün wählen, gibt es eben in Thüringen, wo wir bei der Landtagswahl gerade einmal 5,2 Prozent erhielten, im Bundesvergleich besonders wenige. Und von den großen Städten, von denen unsere Wahlergebnisse im Westen profitieren, gibt es im Osten auch nicht sehr viele. Doch sich mit diesem Zustand abzufinden, wäre fatal. Dass die Farbe Grün in Ostdeutschland weniger zieht, das hat eine Auswirkung auf das gesamte politische Kräfteparallelogramm. Die Schwäche der Grünen dort trägt dazu bei, dass der Spielraum besonders groß ist für eine ganz andere Alternative zum traditionellen Parteiensystem, nämliche die rechtsradikale. Grüne gehören überall zu den energischsten Gegnern der AfD und jeglicher rechtsradikaler oder neonazistischer Bewegungen. Doch, von einzelnen Erfolgen abgesehen, fehlt uns erkennbar die Kraft, breite und stabile demokratische Bündnisse gegen rechts anzuführen. Das führte bei mehreren Landtagswahlen, in denen wir Grüne besonders stark um Stimmen gegen rechts warben, dazu, dass Menschen, die da auf uns hörten, dann lieber andere Parteien wählten, denen sie allein schon von der Größe her mehr Chancen auf eine wirksame Gegenwehr gegen Rechts zubilligten. Davon profitierten bei unterschiedlichen Wahlen Kretschmer in Sachsen, Sellering in Mecklenburg-Vorpommern und Ramelow in Thüringen. 

In allen fünf ostdeutschen Bundesländern steht die AfD derzeit nach Umfragen auf dem ersten oder zweiten Platz. Und es ist keineswegs auf Dauer gesichert, dass die von den demokratischen Parteien auf Bundesebene verkündete Politik der Nichtzusammenarbeit mit der AfD auf Landesebene und lokaler Ebene verlässlich durchexerziert wird. 

Grüne müssen stärker, als wir das derzeit zu leisten in der Lage sind, demokratischer Anker werden. (Das gilt natürlich auch in den Regionen im Westen, in denen die AfD zu besonderer Stärke angewachsen ist.) Ich glaube, dass wir diese Aufgabe nur bewältigen können, wenn wir es schaffen, Politiken zu entwerfen, die in den ländlichen Räumen mehr als Verheißung und weniger als Bedrohung rezipiert werden. Das, würde ich sagen, ist auch für unsere großen transformatorischen Ambitionen auf Bundesebene und für unsere Hoffnung, damit in Europa eine progressive Rolle zu spielen, entscheidend. Zum 30. Jahrestag gilt daher: Vom Osten haben wir damals als Bündnisgrüne entscheidend gelernt und Anstöße aufgenommen, die unser grünes Projekt gestärkt haben. Im Osten müssen wir heute beweisen, dass wir weiter wachsen können, um insgesamt erfolgreich zu sein.


SONST NOCH

In der Wirtschaftswoche habe ich einen Gastbeitrag zum Thema Handelspolitik geschrieben. Warum Grüner Handel möglich und auch nötig ist, kann man hier nachlesen.

In dieser Woche hatte mein Team eine Klausur in Thüringen. Wir haben Weichen für eine erfolgreiche zweite Jahreshälfte gestellt und führende Thüringer Grüne getroffen.

Am Freitag, dem 05. Mai habe ich anlässlich des anstehenden Europatages mit dem Kreisverband Erfurt einen Informationsstand mit Bürgerdialog in Erfurt durchgeführt.

In der nächsten Woche tagt das Europäische Parlament in Straßburg. Hier geht es zur regelmäßig aktualisierten Tagesordnung.

Titelbild: © Archiv Grünes Gedächtnis