Gastbeitrag in der Wirtschaftswoche vom 28.04.2023
Klimakrise, Covid-19, der russische Angriffskrieg, China: Die ökonomische Globalisierung ist nicht beendet, aber sie muss sich zum Besseren wandeln. Deshalb braucht die EU eine zeitgemäße Handelspolitik.
Die Handelspolitik der EU steht unter Druck, sich zu verändern, und sie wird sich ändern. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine, die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie und die geopolitischen Spannungen, besonders jene mit China, haben die Anfälligkeit globaler Wertschöpfungsketten aufgezeigt. Der freie Handel kann nur dann wieder resilienter werden, wenn wir bei der Kooperation mit unseren globalen Partnern dem Kriterium der „likemindedness“ mehr Gewicht geben. Zudem müssen wir Handelsinstrumente gezielt einsetzen, um die verschiedenen Ebenen des Austauschs von Waren und Gütern zu adressieren: bilaterale und regionale Freihandelsabkommen, autonome Handelsinstrumente, sektorspezifische EU-Initiativen, multilaterale Abkommen und globale Handelskooperation. Der Leitgedanke muss dabei sein, dass Handel Klimaschutz befördern muss.Dass die europäische Handelspolitik in Bewegung geraten ist, zeigte bereits die Überprüfung 2021. Die Berliner Ampelkoalition hat dann 2022 eine neue Handelsagenda beschlossen, und zum Jahresende 2022 wagten sich die Europäischen Grünen erstmals an die Formulierung einer gemeinsamen Position zur europäischen Handelspolitik. Deren Ziel: dass die sozial-ökologische Transformation der Wirtschaft sich in dieser Politik niederschlagen muss.
Der von der EU-Kommission vorgelegte Green-Deal-Industrieplan war der jüngste Schritt zu einer neuen Balance von Handels- und Industriepolitik der EU. Die Dringlichkeit einer solchen Neubestimmung ist unbestreitbar. Nicht nur nach innen, auch nach außen muss die EU Gestaltungsmöglichkeiten selbstbewusst anpacken, etwa durch neue strategische Partnerschaften. So könnte es zum Beispiel im Bereich kritischer Rohstoffe gelingen, die EU weniger abhängig von unzuverlässigen Lieferanten zu machen. Entsprechende Partnerschaften mit Ländern des globalen Südens können allerdings nur auf Augenhöhe funktionieren. Die Global-Gateway-Initiative der EU böte dafür den passenden Finanzierungsrahmen. Auch EU-Konnektivitätspartnerschaften mit Japan, Indien oder der Asean-Gemeinschaft sollten endlich mit Leben gefüllt werden. Globale Partnerschaft für Infrastrukturinvestitionen im Rahmen der G7 sollte sich auf die grüne und digitale Transformation sowie die Resilienz von Lieferketten konzentrieren.
Bei bilateralen Freihandelsabkommen muss die EU mehr Flexibilität zeigen und der geostrategischen Ebene der Beziehungen mehr Gewicht geben. Ein solches Abkommen mit Indien etwa kann nicht schematisch am Maßstab der Regelungen gemessen werden, wie sie mit Singapur vereinbart wurden. Ein Freihandelsabkommen mit der ganzen Asean-Region sollte nicht deswegen auf die lange Bank geschoben werden, weil noch nicht mit allen Mitgliedern bilaterale Abkommen existieren. Die Weigerung der USA, im indo-pazifischen Raum durch eine aktivere Handelspolitik zur Stabilisierung beizutragen, kann die EU zwar nicht ausgleichen, aber sie kann noch stärker eigene Präsenz ausbauen.
Der handelspolitische Werkzeugkasten der EU ist seit 2016 deutlich erweitert worden. Es gibt seither unter anderem ein neues Antidumpinginstrument gegenüber China, eines gegen unfaire, marktverzerrende Subventionen aus Drittländern oder das Investment Screening. Und erst kürzlich haben wir ein neues Instrument, mit dem sich die EU gegen äußeren wirtschaftlichen Zwang wehren kann, erfolgreich verhandelt. Durchweg geht es bei diesen Instrumenten um faireren Wettbewerb. Zum Teil müssen wir sie nachschärfen. Das gilt etwa für das Investment Screening, damit wir auf dem Kontinent nicht in fatale Abhängigkeiten geraten.Um mehr Nachhaltigkeit zu erreichen, sollten wir uns von internationalen Abkommen wie dem Pariser Klimaabkommen leiten lassen, aber auch von den globalen Zielen für nachhaltige Entwicklung sowie den Handels- und Nachhaltigkeitskriterien auf europäischer Ebene. In der Vergangenheit stellten die Kapitel in Handelsabkommen zum Thema Handel und Nachhaltigkeit mehr Fassadenbegrünungen als eine strukturelle Umorientierung dar. Die Tatsache, dass die EU-Kommission jetzt vorschlägt, diese Kapitel im Zweifel durch Handelssanktionen durchsetzbar zu machen, ist ein wichtiger Schritt in Richtung grüner Handel.
Die EU hat als globale Standardsetzerin eine entscheidende Rolle, um „grünem“ Handel Vorrang zu geben, zum Beispiel durch das CO2-Grenzausgleichsystem. Natürlich muss der Akzent dabei auf Kooperation gelegt werden und nicht auf Alleingänge. Auf multilateraler Ebene, etwa im Rahmen der WTO, sollte sich die EU dafür einsetzen, dass ein Umweltgüterabkommen zustande kommt.
Handel kann Teil der Lösung für die Krisen unserer Zeit sein, wenn die politischen Rahmenbedingungen entsprechend gesetzt werden. Wenn also Handel Resilienz fördert und nicht einfach die ewige Jagd nach den um ein paar Cent billigeren Anbietern. Wenn Handel an dem Pariser Abkommen und den Nachhaltigkeitszielen ausgerichtet wird und nicht nur die Externalisierung ökologischer Kosten verlängert. Wenn er Menschenrechte ernst nimmt, statt gegenüber moderner Sklaverei Ignoranz und Gleichgültigkeit an den Tag zu legen. Wenn er vereinbarte Arbeitsschutzstandards, etwa die der ILO, durchsetzbar macht. Wenn er Gerechtigkeit fördert statt unfairen Wettbewerb und Ausbeutung. Wenn er nicht örtliche und regionale Wirtschaftskreisläufe zerstört, sondern sie gegen Dumpingkonkurrenz schützt.
Dann kann Handel die Welt verbessern.
Reinhard Bütikofer vertritt die Grünen als Abgeordneter im Europäischen Parlament