Das Europaparlament begeht in diesen Tagen seinen 70. Die Gemeinsame Versammlung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl ist im September 1952 das erste Mal zusammengekommen. Daraus wurde unser Europaparlament. Sie sind seit 2009 Mitglied, was macht dieses Parlament für Sie besonders?
Das EP ist besonders, weil es die einzige von Bürgerinnen und Bürgern direkt gewählte transnationale parlamentarische Institution der Welt ist.
Was ist die besondere Stärke?
Als Stärke des Parlaments habe ich immer die ausgesprochene Kollegialität unter seinen Mitgliedern erlebt – unabhängig von Parteizugehörigkeit und Nationalität. Als Parlamentarier kenne ich sonst noch den Landtag von Baden-Württemberg. Ich war finanz- und haushaltspolitischer Sprecher der Grünen, wir waren in der Opposition. Irgendwann kam der Finanzminister Gerhard Mayer-Vorfelder (CDU) zu mir. Er verstehe gar nicht, warum ich meine Anträge immer so engagiert vortrage. Er sagte: ‚Wir stimmen doch sowieso alles nieder.‘ So war es auch. Ich habe in acht Jahren eine einzige Abstimmung gewonnen. Das ist hier anders: Da wird der Konsens gesucht, da wird über Fraktionsgrenzen hinweg zusammengearbeitet. Ich kann als Abgeordneter einer immer noch kleinen Fraktion Dinge realisieren, wenn ich mit den Kollegen aus anderen Fraktionen konstruktiv zusammen arbeite.
Es ist also kein Malus für das EP, dass es nicht Opposition und Regierung abbildet?
Das Raster des Nationalstaats passt hier nicht. Das EP hat es zum einen mit der Kommission als Exekutive zu tun und andererseits mit dem Rat, der 27-fachen Exekutive der Mitgliedsländer. Letzteren gegenüber ist das EP die starke unitarische Instanz der gesamten EU. Es trägt damit zum Zusammenhalt der EU enorm bei. Anfangs saß man im EP nach Ländern sortiert, seit 1958 sitzen wir nach Parteienfamilien sortiert. Es gibt im EP auch parteipolitische Auseinandersetzungen. Sie sind aber nicht so erstarrt und verkrustet wie in vielen anderen Parlamenten. Vielmehr findet Kooperation statt. Schauen Sie: An einem einzigen Tag stimmen mal die Liberalen und Christdemokraten zusammen, dann die Grünen mit Christdemokraten und Sozialisten. Was zählt ist die Sache. Der Parlamentarismus im EP ist lebendiger.
Was man über die Debattenkultur nicht sagen kann…
Die Debattenkultur ist verbesserungswürdig. Aber, ob es mir gefällt oder nicht, wir müssen uns kurzfassen. In meiner über 13-jährigen Tätigkeit komme ich im Schnitt auf eine Länge des einzelnen Beitrags von etwa zwei Minuten. Meistens darf ich nicht länger als eine Minute reden.
Wie kann das EP besser werden?
Zum einen sollte es mit weniger Sitzungswochen auskommen. Wir haben fast doppelt so viele Sitzungswochen wie im Bundestag. Das sollte geändert werden, damit die Abgeordneten mehr Zeit für den Wahlkreis haben. Zum zweiten sollte das EP noch mehr in die Zusammenarbeit mit den nationalen Parlamenten investieren. Für die europäische Sache wäre es wichtig, wenn eine Phalanx der europäischen Parlamente entstünde.
Das EP hat sich seine Kompetenzen über Jahrzehnte erkämpft.
Das ist richtig. Besondere Verdienste hat sich bei der Stärkung des EP der langjährige CDU-Abgeordnete Elmar Brok erworben. Wir haben mit andern zusammen das Spitzenkandidatenmodell realisiert.
Das hat beim letzten Mal nicht geklappt. Hat das EP sein Blatt überreizt?
Die Spitzenkandidatur ist nach wie vor eine Möglichkeit, um die demokratische Legitimation des Kommissionspräsidenten zu stärken. Wenn die europäischen politischen Parteien zu entsprechender Gemeinsamkeit finden, wird es bei der nächsten Wahl wieder funktionieren. Leider waren beim letzten Mal nur die Grünen und die Christdemokraten dazu bereit.
Kann das EP seine Kompetenzen weiter ausbauen?
Es kann seine Rolle stärken, indem es etwa seine Kontrollfunktion über die Kommission ausbaut. Ein Vorbild könnte da die Reichweite des US-Kongresses bei der Beaufsichtigung der Exekutive sein. Anderer Punkt: Formal darf das EP nur die ganze Kommission abwählen. Wenn Kommissar Olivér Várhelyi aus Ungarn mehr eine Politik für Viktor Orbán macht als für die EU, dann sollte das EP ihn öffentlich so direkt unter Druck setzen, dass die Kommissionspräsidentin handeln muss.
Das EP soll sich das Recht erkämpfen, einzelne Kommissare abzuwählen?
Die Geschichte des EP zeigt: Lange bevor es das formale Recht bekommen hat, den Kommissionspräsidenten zu wählen, hat das EP Beschlüsse zu den vorgeschlagenen Kommissionspräsidenten gefasst. So muss man es wieder machen. Das EP muss Stück für Stück die Bedingungen ändern, um am Ende dann über eine Vertragsänderung das formale Recht zu bekommen.
Reinhard Bütikofer war acht Jahre im Landtag, wird am Ende 15 Jahre im EP gewesen sein, aber nie im Bundestag. Zeigen diese Zahlen, wo Ihr Herz als Parlamentarier schlägt?
Ich wollte nie in den Bundestag. Die Freiheit, die ich mir im Landtag genommen habe, die ich im EP genieße, hätte ich so im Bundestag nicht gehabt. In und für Europa wollte ich schon lange wirken. Diese Leidenschaft ist bei mir tief verankert.