Transatlantische Handelspolitik: nicht gut. | BÜTIS WOCHE #237

Schon ziemlich lange hat es in der deutschen und europäischen Öffentlichkeit nicht viel Aufregung gegeben um transatlantische Handelspolitik. Ich würde dazu sagen: Es ist zu still. Oder in den Worten von Wolf Biermann: „Das Land ist still. Noch!“ Nun könnte man ja vielleicht der Meinung sein nach dem mehrjährigen heftigen Streit über TTIP sei Ruhe an dieser Front ganz erholsam. Tatsächlich aber sind schwelende Konflikte nicht gelöst und neue kommen hinzu. Bisher ist es keine Krise, aber ganz leicht kann schleichend eine daraus werden. 

Erinnert sich noch jemand an TTIP? An diesen im Jahr 2013 mit zukunftsgewissen Fanfaren-Klängen gestarteten Versuch, die transatlantischen Handels- und Investitionsbeziehungen auf eine umfassend erneuerte Grundlage zu stellen? Lang ist’s her. 

TTIP bestand damals aus drei Körben mit unterschiedlichen Verhandlungsgegenständen. Einmal sollte es um die transatlantische Harmonisierung von Standards gehen, die de facto bereits ein gleiches oder mindestens weitestgehend vergleichbares Schutzniveau boten. Also gerade nicht etwa die Standards für die chemische Industrie, bei denen das amerikanische TOSCA-System wesentlich weniger Schutz bietet als die europäische REACH-Regulierung. (Drastischstes Beispiel: In Amerika ist Asbest immer noch legal.) Harmonisierbare gleich gute Standards hätte es in einzelnen Bereichen durchaus gegeben und niemand hätte daran Anstoß genommen. 

Doch dann kam der mit provozierendem Inhalt gefüllte zweite Korb. In diesen hatte die transatlantische Lobbyisten-Gemeinschaft alle ihre Spezialwünsche hineingepackt, die sie vorher zum Teil seit vielen Jahren ergebnislos verfolgt hatte. Da waren nicht nur die Chlorhühnchen und das Genfleisch, da waren ganz generell Angriffe auf hart erkämpfte Verbraucherschutz-, Datenschutz-, Umweltschutz- und Arbeitnehmerschutz-Standards. Ein besonders ehrlicher amerikanischer Lobbyist brachte das damals auf die Deregulierungsformel, europäische Standards seien sehr gut, sie seien zu gut, und was man einer amerikanischen Familie auf den Tisch packe, müsse eben auch für eine europäische Familie gut genug sein. In diesen Korb packte man auch besonders aufreizende Investorenprivilegien wie zum Beispiel die Investor State Dispute Settlement Regulierung (ISDS), die vor vielen Jahren einmal in Deutschland erfunden und inzwischen immer häufiger von internationalen Konzernen ausgenutzt worden war, um zum Beispiel Raucherschutzgesetzgebung anzugreifen oder Verbraucherschutzgesetzgebung. Obendrauf kamen Investorenprivilegien bei der Regulierungspraxis der zuständigen Behörden. Bevor demokratisch gewählte Abgeordnete von einer neuen transatlantischen Regulierungsabsicht hören würden, sollten interessierte Investoren schon ein paar Mal das Recht einklagen dürfen, bei den Regulatoren auf dem Schoß zu sitzen, um ihre Interessen besonders wirksam anzubringen. Ich will hier nicht den Versuch machen, noch einmal alles aufzuzählen, was damals als Lobby-Giftmischung angerührt wurde, weil die entsprechenden InteressenvertreterInnen überzeugt waren, die politische Begeisterung der transatlantischen Regierungen für TTIP sei so groß, dass dieses Pferd auf jeden Fall durchs Ziel gehen werde und man ihm deshalb ganz viele Sättel aufpacken könne. Das Pferd erreichte das Ziel aber nicht. 

Dabei spielten laute und wirksame Proteste gegen die Deregulierung von Standards ebenso eine Rolle wie der Umstand, dass die Obama-Administration zwar viel verlangte, sich aber gegenüber aus EU-Sicht wichtigen Anliegen taub stellte. Obamas Team ließ faktisch zu, dass sinnvolle Harmonisierung sowie die Absicht für Zukunftstechnologien frühzeitig gemeinsame Standards zu setzen, die dann international eine große Rolle spielen könnten, unter die Räder kamen, weil „corporate greed“ im Wege stand.

Im Vorfeld der Regierungsübernahme durch Donald Trump wurde TTIP dann ganz unzeremoniell entsorgt. Trumps Regierung stellte klar, dass sie Handelspolitik als eine besonders wilde Art von Freistilringen betreiben wollte, bei der auch offensichtlich gegen internationales Handelsrecht verstoßende unfaire Praktiken Teil des Instrumentariums waren, wenn es dem Präsidenten gefiel. Trump führte dann nicht nur einen Handelskrieg gegen China, sondern er attackierte auch die EU, der er in interessanter Weise einmal sogar vorwarf, sie sei schlimmer als China. Strafzölle gegen europäischen Stahl und gegen europäisches Aluminium wurden verhängt. Die mehr als ein Jahrzehnt alte Streiterei wegen beiderseits praktizierter unredlicher Subventionen für Boeing oder Airbus wurde mit Lust vorangetrieben. Trump bedrohte auch europäische Automobilexporte in die USA. Deshalb war es nicht verwunderlich, dass Trumps Niederlage in der Präsidentenwahl 2020 in Europa handelspolitisch mit Erleichterung aufgenommen wurde. (In vielen anderen Bereichen natürlich auch.) Gegen Ende der Amtszeit von Trump hatte es noch ein sehr kleines Abkommen gegeben, das amerikanische Hummerexporte in die EU mit denen aus Kanada gleichstellte und dafür der EU Gegenleistungen der US-Seite sicherte. Der Versuch von Präsident Juncker, die USA mit dem Vorschlag der vollständigen Abschaffung aller Zölle auf Industrieprodukte handelspolitisch unter Druck zu setzen, war zuvor an die Wand gelaufen, obwohl Juncker in einem bilateralen Treffen mit Trump diesen mit seiner gefährlich leutseligen Art übertölpelt hatte.

Mit Biden würde alles besser werden, so war die Hoffnung und dass die neue Handelsbeauftragte, Botschafterin Katherine Tai, zuvor als Kongressmitarbeiterin heftig für eine grünere Handelspolitik („greening trade“) eingetreten war, ließ auch Erwartungen wachsen. Doch wenn man heute vor den wichtigen Zwischenwahlen in sechs Wochen (ersten Dienstag im November) versucht, Zwischenbilanz zu ziehen, dann muss man wohl von einer handelspolitischen Ernüchterung sprechen. Diese Ernüchterung kann sich ganz leicht zu einer schleichenden Krise auswachsen, wenn nicht wesentliche Veränderungen in den handelspolitischen Beziehungen angepackt werden.

Zugegeben, es gibt positive Entwicklungen. Wir Europäer werden nicht mehr beschimpft. Der Airbus-Boeing-Streit gehört der Vergangenheit an. Mit dem Trade and Tech Council (TTC) hat man sich, auf europäischen Vorschlag, auf die pragmatische Suche nach gemeinsamen Handlungsmöglichkeiten ohne Vollständigkeitsanspruch begeben. Zuletzt wurde dazu noch ein Dialog zum Thema Handel und Arbeitnehmerrechte eingerichtet. Doch die Schattenseite ist gewichtiger.

Erstens. Der Streit um Stahl und Aluminium, den beide Seiten vor etwa einem Jahr erst einmal auf die lange Bank schoben, kommt auf dieser nicht voran. Noch ein Jahr ist Zeit für eine Lösung dann können/ müssen wieder die Dreschflegel ausgepackt werden, um aufeinander loszugehen. 

Zweitens. Das vollmundige Versprechen von „greening trade“ hat sich bis jetzt als bloße Sprechblase erwiesen. Relevante eigene Ansätze der US-Regierung sind nicht erkennbar, während auf der anderen Seite maßiv gegen die von der EU verfolgte, ökologisch begründete CO2 Grenzausgleichsabgabe (CBAM) Front gemacht wird. 

Drittens. Bei der Reform des WTO-Streitbeilegungsverfahrens hat sich an der faktischen Blockadehaltung gegenüber der Zeit Donald Trumps substanziell nichts geändert, nur das Bidens Leute dabei eine elegantere Figur machen. Auf Nachfrage wird von sachkundigen US-amerikanischen Regierungsvertretern dafür eine Begründung angeführt, die gar nichts gutes erwarten lässt: Die WTO sei insgesamt in ihren Regeln so veraltet und befände sich so sehr im Widerspruch zu US-Interessen, dass eine isolierte Lösung des Konfliktes um Steitbeilegungsverfahren sogar kontraproduktiv wäre. Tatsächlich müssten alle WTO-Funktionen zunächst systematisch reformiert werden, dann könne man auch über die Streitbeilegung reden. De facto ist das eine unerfüllbare Forderung an die übrigen 163 WTO-Mitgliedsländer. Die Experten auf US-Seite wissen das ganz sicher, also läuft ihre Position auf eine etwas verbrämte Absage an die WTO hinaus. Das wird höflicher formuliert, als Trump es getan hätte, ist aber nichtsdestotrotz eine aus europäischer Sicht inakzeptable Position. 

Viertens. Die USA basteln bereits an einem Gefüge neuer Verabredungen und Kooperationsformate. Ein Beispiel ist etwa das Indo-Pacific-Economic Framework (IPEF) mit dem Ländern in dieser Region wie bei einem Buffet verschiedene Kooperationsoptionen angeboten werden. Marktzugang ist keine diese Optionen. Ein weiteres Beispiel ist die CHIPS4-Allianz, die die USA mit Japan, Südkorea und Taiwan eingegangen sind. Es geht dabei natürlich um Halbleiter. Auffällig ist am institutionellen Design dieser US-Initiativen, dass sie jeweils als „minilaterale“ Bündnisse konstruiert sind. Die USA, die sich ausweislich ihrer Position gegenüber der WTO anscheinend nicht mehr stark genug fühlen, um auf multilaterale Ebene ihre handelspolitischen Interessen wirksam zu vertreten, setzen als Alternative nicht auf plurilaterale Lösungen mit möglichst vielen gleichgesinnten Partnern, sondern lieber auf eine größere Zahl an Klein-Allianzen, in denen sie jeweils das Übergewicht haben. Aus EU-Perspektive wäre dagegen eine „partnership in leadership“ richtig, wie sie Außenministerin Annalena Baerbock vor einigen Wochen in ihrer Rede an der New School in New York skizziert hat. 

Fünftens. Präsident Biden hält völlig unvermindert an der bei Konservativen und Gewerkschaftsvertretern beliebten „Buy American“ Politik fest. Ja, er verstärkt diese noch. 

Sechstens mit dem vor Kurzem im Kongress verabschiedeten Inflation Reduction Act (IRA) hat Biden mächtige neue Hürden für transatlantische Zusammenarbeit bei der Entwicklung modernen Produktionstechnologien geschaffen. Das schließt gerade auch solche Technologien mit ein, die für die ökologische Transformation zentral sind. Stolz wurde verkündet, mit dem IRA sei das mächtigste ökologische Transformationsprogramm der US-Geschichte beschlossen worden, und tatsächlich ist das Volumen von, wenn ich mich nicht irre, 369 Mrd. US-Dollar sehr respektabel. Aber dieses Geld soll nun im Wesentlichen für Subventionen ausgegeben werden, die ausschließlich an US-Unternehmen für Produktionen in den USA gehen. Amerikanische Batterietechnologie für amerikanische Elektromobilität, amerikanische Windräder für amerikanische Wähler. Und so weiter. Das ist zugleich ein groß angelegtes Diskriminierungsprogramm gegenüber europäischen Unternehmen, die bei diesen Technologien teilweise mehr zu bieten haben. Es ist auch ein Programm zur Verhinderung von Investitionen in Europa. Die Tesla-Fabrik in Grünheide steht in diesem Zusammenhang wieder zur Disposition. 

Ich erinnere mich noch, dass bei der letzten Münchner Sicherheitskonferenz, die in Präsenz stattfinden konnte, ein amerikanischer Senator zu meinem Erstaunen erklärte, Amerika werde bei der 5G-Technologie leadership haben, obwohl es dort kein Unternehmen gibt, das technologisch mit Nokia oder Ericsson mithalten kann. „Leadership“ beanspruchte Präsident Biden auch schon zweimal im G7 Kontext für seine Initiativen zur globalen Infrastrukturentwicklungspolitik. Im vergangenen Jahr hieß das „Build back better world Initiative“. Diese Initiative verschwand wieder, bevor sie eine Chance gehabt hätte, wenigstens zu einem Konzept zu werden. Dieses Jahr kam Biden dann mit einer neuen Überschrift: „Global Partnership for Infrastructure Investment“ (GPII). Das wurde dann sofort als große Errungenschaft des G7-Gipfels bejubelt, wobei Biden großzügig für „seine“ Initiative die Investitionsmittel in Ansatz brachte, welche die EU-Kommission für ihre Global Gateway Initiative in Aussicht gestellt hatte. Er selbst konnte jedoch keinerlei Budgetmittel versprechen. Some Leadership! Leadership sollte eigentlich mehr sein als eine schöne Überschrift und viel heiße Luft. 

Es wird zunehmend zum Problem der USA, dass sie, geprägt von der Erfahrung uneingeschränkter Hegemonie nach dem Ende der Sowjetunion, ständig einem überkommenen Leadership-Narrativ hinterherlaufen und sich damit selbst im Weg stehen. In der Reaktion auf Russlands Aggression gegen die Ukraine hat Präsident Biden real Führungsstärke gezeigt. Bravo! Bei dem AUKUS-Deal vor etwa einem Jahr war Amerikas Rolle sicherlich führend, aber unbalanciert. Beim überhasteten Abzug aus Afghanistan gab es keine Führung, sondern nur Gestolper. Generell gilt eben, dass die USA auf sich allein gestellt nicht mehr in der Lage sind, jederzeit erfolgreich als Führungsmacht aufzutreten. Im ökonomisch-ökologisch-technologischen Wettlauf mit China werden die USA ohne faire Partnerschaft mit gleichgesinnten Ländern kaum erfolgreich sein. Mindestens Präsident Biden und Außenminister Tony Blinken wissen das. Aber die US-Politik handelt nicht genug danach. Die US-Handelspolitik, die ganz besonders unter dem Einfluss protektionistischer und teilweise nationalistischer Stimmungen steht, hat die Realitäten einer tiefgreifend veränderten Welt mit veränderten Kräfteverhältnissen bis jetzt noch nicht in eine vernünftige Strategie umgemünzt. Für das transatlantische Verhältnis wird das sehr schwer. Dabei hatten in den letzten sieben Monaten die intellektuellen Spielereien, mit denen verschiedene europäische Akteure unter der Parole der „strategischen Autonomie“ mehr oder weniger viel Abstand zu den USA propagierten, gerade einen Realitätscheck erlebt, bei dem die unerlässliche Zentralität transatlantischer Kooperation eindrucksvoll unterstrichen wurde. Dazu müssen beide Seiten die Inselpartnerschaft über den Großen Teich als Unternehmen auf Gegenseitigkeit begreifen, als gleichberechtigten Gegenverkehr, nicht als Einbahnstraße. 

Wir Europäer müssen darauf setzen, dass in Washington die Democrats das realisieren. Auf die Republicans, die gerade von der MAGA-Sekte aufgefressen werden, können wir jedenfalls kaum setzen. Wir sollten unsere Sorgen gegenüber Washington sehr deutlich machen. Drückebergerei und Verzicht auf deutliche Signale würden den USA und uns selbst schaden.

SONST NOCH

In der letzten Woche habe ich gemeinsam mit meiner Kollegin aus der Greens/ EFA-Fraktion, Tineke Strik Nordmazedonien besucht und vielfältige Gespräche geführt, die sich alle darum drehten, dass eine ernsthafte Beitrittsperspektive für Nordmazedonien nach wie vor unter erheblichen Blockaden leidet. Die Stimmung im Lande ist trüb. 

Am Montag, den 26.09, habe ich mit VertreterInnen des hessischen Handwerks in Brüssel diskutiert. Das Handwerk hat mehr Aufmerksamkeit in der Wirtschaftspolitik verdient.

Meine Pressemitteilung zu den Mutmaßungen über die Urheberschaft der Explosionen, die Nord Stream 1 und Nord Stream 2 beschädigt haben, findet sich hier.

Meine Pressemitteilung zu Putins Entscheidung, weitere Gebiete der Ukraine zu annektieren, findet sich hier.

In dieser Woche war ich für Unternehmensbesuche in Thüringen und traf mich mit Vertretern der Schuler Group, Siemens Energy und N3 Overhaul Engines für einen Austausch.

Den Tag der Deutschen Einheit begehe ich in unserer deutschen Botschaft in Warschau. 

Vom 04.10 – 05.10 bin ich auf dem Warschauer Sicherheitsforum und nehme dort an verschiedenen Panel-Diskussionen teil.

Am 13.10 veranstalte ich eine China-Konferenz in Brüssel, an der einige der weltbesten ChinaexpertInnen teilnehmen. Hier geht es zur Anmeldung. Alternativ kann die Veranstaltung auch per Livestream auf Youtube verfolgt werden.