Am 14. September wird Ursula von der Leyen ihre jährliche Rede als Kommissionspräsidentin zur Lage der Europäischen Union halten. Dabei wird sie auf ein Jahr zurückblicken, das für die Europäische Union mehr schwere Herausforderungen mit sich brachte als irgendein anderes in vielen, vielen Jahren. Sie wird sich zugleich der Aufgabe zu stellen haben, einen Kurs zu markieren, mit dem die EU eine Chance hat, diese Herausforderungen gemeinsam zu bestehen.
Ohne mich damit indirekt als Redenschreiber für die Kommissionspräsidentin bewerben zu wollen, habe ich mir die Frage gestellt, was ich wohl gerne im außenpolitischen Teil der SotEU–Rede hören würde. Klar: Die Auseinandersetzung mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine mit dieser brutalen Aggression, die zugleich auf die Zerstörung der Europäischen Sicherheitsarchitektur zielt, wird im außenpolitischen Teil im Zentrum stehen. Frau von der Leyen hat dabei bisher schon eine eindeutige Haltung der verlässlichen Solidarität mit der Ukraine eingenommen, hat unseren gemeinsamen Widerstand gegen Präsident Putins Politik eindeutig formuliert und wirksam dazu beigetragen, dass die EU nun über mehr als ein halbes Jahr angesichts dieser großen Krise so viel Gemeinsamkeit zustande brachte. Sicherlich wird Frau von der Leyen auch für die Fortsetzung dieses Kurses werben.
Doch was kommt sonst noch? Ich würde gerne zu fünf Themenbereichen etwas von der Präsidentin hören: Erstens NATO/ transatlantisches Verhältnis/ strategische Souveränität. Zweitens Global Gateway Initiative. Drittens Europas China-Strategie. Viertens Europas Perspektive gegenüber den Ländern des globalen Südens und fünftens Europas Verantwortung für die internationale Klimapolitik.
Dass die NATO „hirntot“ sei und Europa sich vor allem, und das auch in bewusster Abgrenzung gegenüber den USA, um „strategische Autonomie“ kümmern müsse, das ist eine Position, der die Erfahrungen seit dem 24. Februar 2022 weitgehend den Boden entzogen hat. Enger als derzeit haben die transatlantischen Partner lange nicht sicherheitspolitisch zusammengearbeitet. Und es geht nicht darum zu wählen, ob die EU sich bequem auf sicherheitspolitische Garantien der USA verlassen soll, ohne eigene Verantwortung zu übernehmen, oder ob sie sich mangels Vertrauens auf die USA nur auf sich selbst besinnen solle. In der Unterstützung der Ukraine traf eine systematische transatlantische Kooperation zusammen mit der europäischen Bereitschaft, eigene Verantwortung zu übernehmen, eigene Beiträge zu leisten, mehr Anstrengungen für die eigene Sicherheit anzupacken. In Deutschland wurde das durch die Zeitenwende-Rede des Bundeskanzlers eingeläutet. Doch wie geht das weiter? Schaffen wir EuropäerInnen es, durch eine gemeinsame Beschaffungspolitik im Verteidigungsbereich die Effizienz zu erzielen, die bei der bisherigen teuren, unkoordinierten Politik systematisch verfehlt wurde? Und wie beantworten wir EuropäerInnen die vielfach zweifelnd gestellte Frage, ob man denn überhaupt erwarten könne, dass transatlantische Verlässlichkeit seitens der USA auch nach dem Wahltag im November 2024 noch gelten wird? Und welche neuen Strukturen und Handlungsebenen brauchen wir gegebenenfalls, um sowohl das engere europäische Miteinander als auch die Partnerschaft mit den USA zu festigen?
In ihrer letztjährigen SotEU-Rede kündigte Ursula von der Leyen die Global Gateway Initiative an, eine europäische Antwort auf Chinas Belt and Road Initiative. Im Dezember 2021 folgte dann eine auf der Grundlage dieser Ankündigung ausgearbeitete Strategie, die international auf positive Aufmerksamkeit stieß. Viele Länder wollen mit uns im Bereich Infrastrukturentwicklung und Verstärkung der Konnektivität zusammenwirken. Doch ist es der EU seither leider nicht gelungen, die Governance-Fragen innerhalb dieser Strategie zu klären. Es ist nicht gelungen, die hinhaltende Obstruktion aus einigen Generaldirektionen der Kommission (INTPA insbesondere) zu überwinden. Es ist nicht gelungen, für diese Strategie in der Öffentlichkeit überzeugend zu werben; das versprochene Global Gateway-Forum diesen Herbst wurde einfach abgesagt. Es ist bisher auch nicht gelungen, plausible Leuchtturmprojekte zu identifizieren und dabei die Kooperationsmöglichkeiten, die sich etwa aus den Konnektivitäts-Abkommen mit Japan und Indien ergeben, auszunutzen. Frau von der Leyen hat vor einem Jahr die richtige Initiative ergriffen, aber bisher fehlte die Kraft, diese auch praktisch wirksam zu machen. Wenn sich das nicht ändert, ist das ein schwerer Rückschlag für die geopolitische Ambition der Kommission. Wird Frau von der Leyen dieses Thema anpacken?
Aus der Erfahrung mit der fossilen Abhängigkeit der Europäischen Union gegenüber Russland muss offenkundig mehr folgen als nur eine neue Russlandpolitik. Die EU muss insgesamt lernen, Abhängigkeit gegenüber autoritären Regimen oder gar totalitären, wie im Falle Chinas, zu verringern. Dass Frau von der Leyen das auch so sieht, daran habe ich keinen Zweifel. Zweifel habe ich, ob das Kanzleramt das genauso sieht. Oder ob der Élysée-Palast das genauso sieht oder die italienische und die spanische Regierung. In der Chinapolitik sind meines Erachtens die europäischen Institutionen weiter als die nationalen. Das Europäische Parlament hat dabei eine positiv gestaltende Rolle gespielt, aber auch Frau von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel haben beim letzten EU-China-Gipfel Klartext gesprochen. Dabei konnten sie sich auf großen Rückhalt in der allgemeinen Öffentlichkeit, in wichtigen Medien, in der Think-Tank-Welt und in relevanten Teilen der Wirtschaft stützen. Die Win-win-Blauäugigkeit, welche lange Zeit europäische Chinapolitik prägte, ist ganz überwiegend passé. Trotzdem ist die Meinungsbildung nicht einfach harmonisch. In Deutschland sprechen das Auswärtige Amt und das Kanzleramt zum Thema verschiedene Sprachen. Die Chefs großer multinationaler Konzerne haben es sich in jüngerer Vergangenheit angelegen sein lassen, der von ihnen befürchteten Neuorientierung der Chinapolitik, wie sie in Grundzügen ja von der Ampel im Koalitionsvertrag festgelegt wurde, deutlich zu widersprechen. Dass sie dabei nicht, wie sie gerne behaupten, für die deutsche Wirtschaft sprechen, dafür stehen anderslautende Positionierungen aus Verbänden wie dem BDI oder zuletzt auch vom Chef der Deutschen Bank. Ich bin sicher, dass auch in anderen EU-Ländern die notwendigen Neufestlegungen europäischer Chinapolitik nicht ohne Debatte und auch nicht ganz ohne Streit abgehen wird. Wird Frau von der Leyen die Chance ergreifen, dazu einen orientierenden Beitrag zu leisten? Wird sie zum Beispiel, nachdem der hohe Beauftragte für Außenpolitik, Josep Borrell, nur einen ungemein schwachen Kommentar abzuliefern wusste, zum für China vernichtenden Bericht der ehemaligen Hochkommissarin für Menschenrechte wegen der Verbrechen in Xinjiang zu einem angemessenen Ton finden? Wird sie klarmachen, dass die EU den Vorwurf von „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ nicht nur mit einem Achselzucken zur Kenntnis nimmt?
Wir Grünen haben uns in vielen Jahrzehnten sehr konsequent für globale Gerechtigkeit eingesetzt, für einen faireren Umgang der Industrieländer mit den Ländern des globalen Südens. Wir haben das immer wieder mit ethischen Argumenten untermauert, deren Gültigkeit auch heute außer Frage steht. Doch inzwischen haben sich die globalen Kräfteverhältnisse so weit verschoben, dass die Frage, ob europäische Politik Willens ist, die Herausforderung globaler Gerechtigkeit ernst zu nehmen, nicht mehr nur aus ethischen Gründen positiv beantwortet werden muss, sondern auch aus ganz schlichtem geopolitischem Kalkül. Wenn Europa dabei zu kurz springt, aus Gier und Selbstgerechtigkeit an dieser Herausforderung scheitert, dann untergräbt Europa nicht nur die Glaubwürdigkeit unseres Werbens für die universellen Werte unserer demokratischen Lebensweise, sondern auch unsere materiellen Interessen. Eine neue Partnerschaft ist deswegen angesagt, beim Afrika-Gipfel Anfang des Jahres ist das der Kommission gründlich misslungen. Hat sie daraus gelernt? Wird Frau von der Leyen diese Frage überhaupt ansprechen?
Schließlich bleibt die Frage der internationalen Klimapolitik. Am 7. November beginnt in Scharm El-Scheich die diesjährige Weltklima-Konferenz. Europa hat sich im Rahmen des European Green Deals dabei ehrgeizigere Ziele gesetzt als andere Weltregionen. Die Bereitschaft der USA, durchgreifende klimapolitisch begründete Reformen zu verwirklichen, ist sehr begrenzt, der innenpolitische Spielraum von Präsident Biden ist in diesen Fragen eng. China erweckt zunehmend den Eindruck, als wolle das Land die wolf warrior diplomacy nun auch auf den Bereich der Klimapolitik ausweiten. Es gibt sicher Partner für Klimapolitik in China, aber China als ganzes und seine Führung ist kein Partner in diesem Bereich. Also wird viel, wenn nicht alles davon abhängen, ob die EU so viel Gemeinsamkeit zustande bringt mit den vom Klimawandel bedrohten Inselstaaten und mit der vor allem von Afrika dominierten Gruppe der 77, dass die zwei Supermächte und andere zögerliche bis blockierende Akteure hinreichend unter Druck kommen, sodass doch eine Bewegung nach vorne möglich wird. Als Klotz am Bein erweist sich dabei die Tatsache, dass die Industrieländer ihr Versprechen, bis 2020 100 Milliarden Dollar zur Finanzierung von Klimapolitik im globalen Süden zur Verfügung zu stellen, bis heute nicht realisiert haben. Wie wird Frau von der Leyen den Kurs der EU für die Konferenz markieren?
Ich bin selbst gespannt, welche Agenda für das internationale Wirken der EU die Kommissionspräsidentin bei ihrer SotEU-Rede insgesamt präsentieren wird. Natürlich kann sie mit der besten Rede die Mitgliedsländer nicht zwingen, der von ihr vorgeschlagenen Orientierung zu folgen. Aber es wäre unendlich hilfreich, wenn sie einen Handlungshorizont beschreiben würde, der auf der Höhe der Herausforderungen ist, wenn sie einen gemeinsamen europäischen Gestaltungsanspruch formulieren würde und demonstrieren, dass in Brüssel die weltweite Verantwortung der EU tatsächlich ins Auge gefasst wird.
SONST NOCH
In dieser Woche habe ich an der Konferenz der Leiterinnen und Leiter der deutschen Auslandsvertretungen, der „Boko 2022“, in Berlin teilgenommen und bei einem Panel über die deutsche Chinapolitik mitdiskutiert.
Ich war zu Gast im NTV Podcast und habe dort mit dem Journalisten Frank Sieren über die steigende deutsche Abhängigkeit von China in der Wirtschaftspolitik gestritten.
Diese Woche traf ich mich mit dem Industrieverband Feuerverzinken e.V. für einen Austausch.
Ich hatte ein sehr interessantes Gespräch mit dem indischen Botschafter über die Perspektiven des derzeit verhandelten EU-Indien Freihandelsabkommens.
In der nächsten Woche ist die erste Plenarwoche nach der Sommerpause in Straßburg, hier findet sich die regelmäßig aktualisierte Tagesordnung.
Titelbild: © European Union 2021 – Source : EP