Die globalen Machtambitionen Chinas wachsen im Schatten des Ukraine-Krieges. Moskau und Peking wollten die internationale Rechts- und Friedensordnung beenden, sagt EU-Parlamentarier Bütikofer (Grüne). Welche Hebel besitzt die EU, um das zu verhindern?
WELT: Herr Bütikofer, die chinesische Regierung hat Sie und andere EU-Abgeordnete im März 2021 auf eine Sanktionsliste gesetzt. Sie haben Einreiseverbot. Gilt das immer noch?
Reinhard Bütikofer: Das gilt noch.
WELT: Wie kam es dazu?
Bütikofer: Die EU hatte im März 2021 gegen eine Handvoll chinesische Kader Sanktionen erlassen, die allesamt persönlich in die brutale Unterdrückung der Uiguren in Xinjiang verwickelt waren. Unmittelbar danach hat die Volksrepublik dann gegen einige Institutionen und Menschenrechtsorganisationen sowie Abgeordnete Gegensanktionen verhängt. Diese Revancheaktion hat auch mich getroffen.
WELT: Im Moment blicken europäische Politiker vor allem auf den russischen Krieg in der Ukraine. Dass sich in einem anderen Teil der Welt ebenfalls Konflikte zuspitzen, taucht in den Debatten wenig auf. Im gerade veröffentlichten strategischen Konzept der Nato heißt es: „Die Ziele und Politik Chinas stellen grundsätzlich eine Herausforderung für die Interessen, die Sicherheit und die Werte des Bündnisses dar.“ Ist die Lage damit hinreichend beschrieben?
Bütikofer: Das ist ein wichtiger Schritt, auf den sich die Nato-Mitglieder da geeinigt haben. China wird mit seinen Ambitionen als eine global wirksame Macht identifiziert, die auch für uns im nordatlantischen Raum Risiken beinhaltet. Damit ist die Nato den Diskussionen in manchen Mitgliedsländern voraus.
WELT: Peking hat auf die Formulierung erbost reagiert. Die Nato sei eine „ernsthafte Bedrohung“ für den Weltfrieden, schreibt die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua. Wie ist das aus Ihrer Sicht zu bewerten?
Bütikofer: Das ist eine der vielen Propagandalügen, mit denen Peking versucht, der internationalen Gemeinschaft die eigene Weltsicht überzustülpen. Diese Attacken haben Tradition. Anfang Februar haben sich der russische Präsident Putin und der chinesische Staatschef Xi Jinping am Rande der Olympischen Spiele getroffen. Sie haben gemeinsam erklärt, dass beide Länder gegen die Osterweiterung der Nato eingestellt sind.
Das war das erste Mal, dass China sich offiziell so geäußert hat. China findet also, dass Länder wie Litauen, Polen oder Rumänien nicht in die Nato gehören. Damit hat sich Peking der russischen Anti-Nato-Position angeschlossen.
Die kritische Sicht auf China im strategischen Konzept der Nato ist also untermauert. Die chinesische Behauptung, dass die Nato vorhabe, sich auf den asiatischen Raum auszudehnen, ist völlig aus den Fingern gesogen.
WELT: China hat sich im Ukraine-Krieg auf die Seite der Russen geschlagen. Hat Sie das in dieser Deutlichkeit überrascht?
Bütikofer: Nein. Putin und Xi haben bereits vor dem Angriff der Russen auf die Ukraine eine Allwetterfreundschaft begründet. Sie präsentieren sich als Großmächte, die die Absicht haben, die heutige internationale Ordnung des Multilateralismus und der Herrschaft des internationalen Rechts durch ein gemeinsames Hegemonialprojekt der autoritären Mächte abzulösen.
WELT: Das bedeutet, dass wir es mit China und Russland inzwischen mit einem antidemokratischen, antiwestlichen Block zu tun haben?
Bütikofer: Ich würde weiter gehen. Dieser Block ist nicht nur gegen Europa und die USA gerichtet. Xis China ist nicht bereit, eine Weltordnung zu akzeptieren, in der alle Länder gleiche Rechte haben, so wie es die UN-Charta vorsieht. In der griechischen Antike gab es den Begriff der Isonomie. Das war das Gegenteil zur Tyrannis. In der Isonomie haben die Bürger in der Polis gleiche Rechte, in der Tyrannis hat nur einer alle Rechte.
Xi verfolgt als Perspektive für die internationalen Beziehungen das Modell Tyrannis. Schwächere Staaten sind damit bedroht.
WELT: Wie müsste dann bei solchen Bestrebungen Ihrer Ansicht nach die EU-Politik gegenüber China aussehen?
Bütikofer: Zunächst mal wäre es wichtig, gegenüber China eine gemeinsame europäische Politik zu verfolgen. Das war nicht immer der Fall. Nicht nur, weil manche osteuropäische Länder Sonderbeziehungen zu China entwickelt haben. Auch weil Deutschland Sonderwege gegangen ist.
Berlin hat es gegenüber China oft an Klarheit vermissen lassen. In der EU wird China seit drei Jahren als systemischer Rivale bezeichnet. Diese Worte hat Bundeskanzlerin Merkel nicht in den Mund genommen. Die Ampel-Koalition ist da heute mutiger.
Bütikofer: Es wird für die EU nicht ausreichen, nur auf das transatlantische Bündnis zu setzen. Wir müssen uns breiter aufstellen und überall auf der Welt Kooperationen mit Demokratien und gleich gesinnten Ländern suchen, die ebenfalls Interesse an einer regelbasierten Ordnung haben. Singapur ist keine Musterdemokratie, aber in diesem Sinne ein gleich gesinntes Land.
Und drittens wäre es völlig verfehlt, eine Anti-China-Politik zu verfolgen. Wir müssen eine proaktive Politik formulieren, in der wir Wege aufzeigen, wie die großen globalen Herausforderungen angegangen werden können, etwa in der Pandemiebekämpfung oder beim Klimawandel.
Eine europäische Politik, die sich nur negativ auf China bezöge, die sich in dem Missverständnis suhlen würde, nur die eigenen Positionen gegenüber China verteidigen zu können, würde zu nichts führen und eine neue globale Perspektive verpassen.
WELT: Der chinesische Staatschef verfolgt seit Jahren ein Aufrüstungsprogramm. Im Visier hat er vor allem das unabhängige Taiwan. Rechnen Sie in den nächsten Jahren mit einem Krieg?
Bütikofer: Ich glaube nicht, dass da ein Angriff unmittelbar bevorsteht. Vom russischen Überfall auf die Ukraine sollten wir aber lernen, dass es wichtig ist, vorausschauend zu handeln. Es geht um Abschreckung, auch nicht militärischer Art. Auf die russischen Aggressionen gegen Georgien, Syrien und die Ukraine hat Europa unangemessen reagiert.
Wir haben das nicht ernst genug genommen. Harte Sanktionen wurden erst diskutiert, als Putin den Krieg gegen Kiew schon beschlossen hatte. Diesen Fehler sollten wir gegenüber China nicht wiederholen.
WELT: Sanktionen gegen China würden die deutsche Wirtschaft noch sehr viel schwerer treffen als die Sanktionen gegenüber Russland. Die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und China sind derzeit so intensiv wie nie zuvor. Welche Handlungsräume bleiben da?
Bütikofer: Mit Abhängigkeiten gegenüber China dürfen wir uns nicht abfinden. Wir sollten ökonomische und politische Maßnahmen ins Auge fassen, die die chinesische Führung ernst nehmen muss.
Für Xi Jinping gibt es zwei Imperative. Einerseits möchte er als chinesischer Parteikaiser in die Geschichte eingehen, der Taiwan zurückgeholt hat. Aber er möchte auch der sein, der das Land insgesamt zu prominenter wirtschaftlicher Stärke geführt hat.
Wenn China das Risiko eingeht, dass eine Eroberung Taiwans den Aufstieg Chinas insgesamt gefährdet, müsste die Führung in Peking überlegen, ob die Politik des früheren chinesischen Staatschefs Deng Xiaoping nicht klüger war als die aggressive Politik von heute.
WELT: Sie haben immer wieder Sanktionen gegen China eingefordert, zuletzt, als Bilder aus chinesischen Lagern veröffentlicht wurden, die die grausame Behandlung von Uiguren belegen. Bleiben Sie dabei?
Bütikofer: Ja, ich bin für Maßnahmen gegen Verantwortliche, denen Grausamkeiten und Menschenrechtsverletzungen nachgewiesen werden können. Nicht nur in Xinjiang.
Der neue Verwaltungschef von Hongkong etwa trägt Verantwortung für die Niederschlagung friedlicher Demonstrationen 2019. Er steht für ein Regime der Unfreiheit und bricht das Hongkonger Grundgesetz. Er sollte von uns sanktioniert werden. Eine Verengung unserer Politik auf Sanktionen wäre aber verfehlt.
WELT: 2008 wurde der Athener Hafen von Piräus an einen chinesischen Großkonzern verkauft. War das naiv?
Bütikofer: Das war kurzsichtig. China versucht, die Infrastrukturbedürfnisse vieler Länder weltweit zu nutzen, um damit Abhängigkeiten zu schaffen. Deswegen hat die EU eine Alternative zur sogenannten Seidenstraßen-Strategie Pekings entwickelt, die „Global Gateway“-Initiative.
Und wir dürfen Verpflichtungen gegenüber Entwicklungsländern nicht auf die lange Bank schieben und China damit die Möglichkeit verschaffen, sich dort als wahre Helfer in der Not zu präsentieren. Das alles braucht als Basis eine handlungsfähige EU, die nicht China auch noch die Tür öffnet für dessen Hegemoniestreben.