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Macron am Steuerrad Europas | BÜTIS WOCHE #219

Seit dem 1. Januar hat Frankreich die rotierende Ratspräsidentschaft der EU inne. Die französische Regierung ist damit dafür zuständig, die Arbeit der Ministerräte anzuführen und zu koordinieren, um die vielfältigen Felder der EU-Politik möglichst erfolgreich zu beackern. Eine solche Ratspräsidentschaft dauert jeweils ein halbes Jahr. In bunter Folge lösen sich dabei die EU-Mitgliedstaaten ab. Vor Frankreich war Slowenien dran. Folgen wird die Tschechische Republik. Deutschland hatte zuletzt in der zweiten Jahreshälfte 2020 die Ratspräsidentschaft inne und nutzte diese unter anderem, um den siebenjährigen Haushalt der EU über die Hürden zu bringen.

Frankreichs Ratspräsidentschaft fällt zusammen mit dem Präsidentschaftswahlkampf dort. Und nicht wenige Kommentatoren hatten laut oder leise gehofft, Paris werde sich vielleicht dazu verstehen, diese beiden Dimensionen getrennt zu halten. Doch dabei hat man sich in Präsident Macron getäuscht. Er hat durchaus die Absicht, seine herausgehobene Rolle in politisches Kapital für seine Wiederwahlkampagne umzumünzen. Europäische Termine finden deswegen mit einer gewissen Regelmäßigkeit in für Macron besonders wichtigen Wahlkreisen statt. Und Macrons Agieren ist ganz generell von der Spekulation geprägt, wenn er als Anführer der EU bella figura machen könne, werde er damit umso sicherer seine Herausforderer von rechts in die Schranken weisen. Um die französische Linke muss Macron sich leider nicht viel Gedanken machen. Die ist so selbstmörderisch zersplittert zwischen zahlreichen Maxiegos, dass sie garantiert nichts ausrichten wird. Mangels großer Aussichten, zu Hause viel Dynamik zu entfalten, ließen sich in der Debatte des Europäischen Parlaments mit Präsident Macron über die Agenda seiner Ratspräsidentschaft unser Parteifreund Yannick Jadot und auch einige andere Redner dazu hinreißen, die notwendige Strategiedebatte durch eine Marktplatzschreierei zu ersetzen. Das war eher zum Abgewöhnen.

Macrons Ratspräsidentschaft erfährt nicht nur wegen seiner Wahlkampfbemühungen hohe Aufmerksamkeit. An die großen Länder der EU richtet sich regelmäßig die Erwartung, sie könnten mit ihrem Gewicht einige Themen zum Abschluss bringen, die bis dahin durch die europäische Liebe zur Zerstrittenheit aufgehalten wurden. Und schließlich wird Macron besonders beäugt, da es ja sein kann, dass in ihm nach dem Abtritt von Angela Merkel und angesichts der – bisher jedenfalls – durchaus begrenzten außen- und europapolitischen Ambition von Olaf Scholz die für die nächsten Jahre dominierende Führungsfigur der EU heranwächst. In seiner Rhetorik übrigens klingt Macron öfter so, als sei er das schon. Dann erweckt er z. B. den Eindruck, es bedürfe nur seiner beherzten Worte, um den russischen Zaren von der neuerlichen Aggression gegen die Ukraine abzuhalten. Die Macronsche Selbstverliebtheit führt mit einer gewissen Regelmäßigkeit dazu, dass er sich nach etlichen seiner politischen Äußerungen jeweils missverstanden fühlt. Aber man muss wohl unumwunden einräumen, dass die EU sicherlich nicht besser dran wäre, wenn er sich genauso wenig zum Führen berufen fühlte wie viele seiner Kollegen im Europäischen Rat. Zudem ist ja beim Präsidenten des Europäischen Rates, Charles Michel, und bei Kommissionspräsidentin von der Leyen klar geworden, dass sie die Merkel-Lücke nicht füllen werden. Sie schillern zu sehr, haben sich trotz ihres hohen Amtes in eine abhängige Position bringen lassen und tauchen manchmal richtig eine Weile ab.

Macron will nicht nur führen. Er besteht auch, und das völlig zu Recht, darauf, dass die EU nicht unendlich viel Zeit hat, um ihre Politik zu erneuern und den Herausforderungen, denen sie sich gegenübersieht, gewachsen zu werden. Macron will z. B. die Reform einiger Instrumente zur wirtschaftlichen Selbstbehauptung Europas, wie das International Procurement Instrument oder das Foreign Subsidies Instrument oder das Anti-Coercion Instrument, in der Restzeit seiner Amtszeit zum Abschluss bringen. Es wäre bemerkenswert, wenn er das schaffte. Geboten wäre es allemal. Und die Debatten um diese Instrumente kümmern schon viel zu lange auf verschiedenen Ratstischen dahin. Das International Procurement Instrument z. B., bei dem es darum geht, Reziprozität in den Beschaffungsmärkten durchzusetzen, wurde von der Kommission zum ersten Mal vor zehn Jahren vorgeschlagen und dann von Berlin dreimal blockiert. Inzwischen gibt es ein gewisses Umdenken. Die deutsche Industrie unterstützt das auch. Und Merkels G7-Sherpa und Marktdogmatiker Professor Röller steht nicht mehr im Weg. Hoffentlich wird sich nicht Olaf Scholz nun als Bremser betätigen, von dem kolportiert wird, dass er zur Überraschung der eigenen Beamten im Kanzleramt plötzlich Einwände habe, die bei der Formulierung des Koalitionsvertrages jedenfalls nicht vorgebracht wurden und diesem meines Erachtens widersprechen würden. Umso besser, wenn Frankreich antreibt.

Zuletzt hat die Erfahrung mit Chinas erpresserischer Sanktionspolitik gegenüber Litauen über alle Maßen deutlich demonstriert, wie wichtig es ist, dass wir in einer Ära der neuen Großmachtpolitik, in der imperiales, geostrategisches Denken über geoökonomische Rationalität triumphiert, unsere eigene Handels-, Investitions- und Wirtschaftspolitik schnell modernisieren. Keine gute Rolle spielt Frankreich allerdings in diesem Zusammenhang, wenn es darum geht, die grüne Transformation zu priorisieren. Als Atomkraftverfechter trägt Präsident Macron gerade massiv dazu bei, der europäischen Taxonomie, bei der ökologisch sinnvolle und ökologisch nicht sinnvolle Investitionen gegeneinander unterschieden werden sollen, den Boden zu entziehen, weil man nicht nachhaltige Investitionen in Atom und Gas mit einem grünen Mäntelchen versieht. Da ist Frankreich sicherlich nicht alleine schuld, aber die Glaubwürdigkeit der EU und die Ankündigungen von Frau von der Leyen zum European Green Deal leiden darunter. Es kann übrigens gut sein, dass wir in der Hinsicht in den nächsten Monaten noch mehr Negativnachrichten bekommen werden, wenn tatsächlich im Europäischen Parlament die drei größten Fraktionen der Christdemokraten, der Sozialdemokraten und der Liberalen wie angekündigt darauf beharren, bei den für das Klimaprogramm Fit for 55 entscheidenden Gesetzgebungsthemen Grüne Beteiligung so gut es geht zu minimieren, denn von den drei Fraktionen taugt keine für die Rolle als Klimagewissen Europas. 

Bei vielen Themen ist für mich heute nicht absehbar, was Macrons Ratspräsidentschaft am Ende wirklich bewirken wird. Ein Durchbruch in der gemeinsamen Flüchtlingspolitik erscheint unwahrscheinlich. Konsequentes Handeln zur Verteidigung von Rechtsstaatlichkeit wäre natürlich zu wünschen, aber bisher hat noch keine Ratspräsidentschaft dem wirklich Priorität gegeben. Diese Themen werden gerne an Parlament und Kommission abgetreten, die alleine aber keine Lösung zustande bringen können. Eine Reform der Agrarpolitik ist völlig aussichtslos. Das ist schon vor der französischen Ratspräsidentschaft versenkt worden. Große soziale Themen trägt Paris gerade nicht voran. Für die Konferenz zur Zukunft Europas gibt es viele warme Worte, aber nach meinem Eindruck ist es bisher niemandem gelungen, diesem Unterfangen eine angemessene Dynamik zu verleihen. Das liegt, denke ich, auch daran, dass nicht richtig klar ist, ob es sich hier um ein realpolitisches, auf wenige pragmatische Reformen konzentriertes Unterfangen oder ein Bürgerbeschäftigungswünschdirwas handelt, bei dem alles angesprochen und nichts bewegt werden kann.

Weitreichender Gestaltungswillen prägt Macrons außen- und sicherheitspolitische Agenda. Schon allein die Liste der Vorhaben ist eindrucksvoll. Macron ist Gastgeber eines Gipfels der EU mit der Afrikanischen Union und eines indopazifischen Forums. Er betreibt zusammen mit von der Leyen einen verteidigungspolitischen Gipfel, will den Strategischen Kompass der EU für mehr gemeinsame Sicherheitspolitik verabschiedet sehen. Er unterstützt die Global Gateway Initiative der Europäischen Kommission aktiv und bemüht sich sogar darum, auch andere Mitgliedsländer ernsthaft einzubeziehen. Er wirft sich in die Russland-Politik. Und er bemüht sich, an einer Neuausrichtung der europäischen China-Politik einen Anteil zu haben. Dabei ist Paris eher als Berlin oder Brüssel bereit, sich positiv auf die Zusammenarbeit mit Taiwan einzulassen. Interessant finde ich übrigens auch, dass vor dem Hintergrund der aktuellen Russland-Krise ohne große Vorankündigung das durchaus bejahte und lange Zeit fast in der Vergessenheit verschwundene Weimarer Dreieck zwischen Paris, Warschau und Berlin neu belebt wurde.

Bestünde die französische Regierung nicht so hart, wie sie das tut, auf der leidigen ideologischen Formel von der notwendigen „strategischen Autonomie“ der EU, könnte man Macrons außenpolitische Ambitionen im Wesentlichen positiv bilanzieren. Doch mit diesem Dogma, für das es im Kreise der EU-Mitgliedsländer niemals eine gemeinsame Position geben wird, schafft Frankreich unnötige Hindernisse, obwohl die pragmatische Aussage, dass Europas eigenständige Handlungsfähigkeit gestärkt werden muss, tatsächlich von niemandem in Zweifel gezogen wird. Es wäre meines Erachtens eine der wichtigsten Aufgaben der Bundesregierung gegenüber Paris, die Unterstützung für den außenpolitischen Aktivismus Macrons zu verbinden mit einer Neubestimmung der dafür richtungsweisenden philosophischen Orientierung. In unserem Koalitionsvertrag ist von strategischer Autonomie nicht die Rede, aber es ist die Rede von der notwendigen strategischen Solidarität zwischen Demokratien. Man kann das auch erweitern und von der notwendigen strategischen Solidarität zwischen gleichgesinnten, am Multilateralismus orientierten Ländern sprechen. Wenn es zwischen Paris, Warschau und Berlin und, offen gesagt, in Übereinstimmung mit Washington einen Konsens darüber geben könnte, dass und wie stärkere europäische Handlungsfähigkeit und Bereitschaft zu Handlungsverantwortung mit dem Prinzip der strategischen Solidarität zusammengebracht werden, dann könnte Macrons europäische Ratspräsidentschaft einen historischen Einschnitt markieren.

Vielleicht ist das ja ein politischer Traum, doch es wäre, so viel Optimismus lasse ich mir nicht nehmen, nicht das erste Mal, dass die EU es schaffen würde, alle Untergangspropheten und Schwarzseher mit der Fähigkeit zur Erneuerung zu überraschen. Der Status quo ist nicht nachhaltig. Und das Ringen um den besten Mittelweg bringt, wie wir noch aus der Zeit der Sponti-Bewegung wissen, „in Gefahr und größter Not – den Tod“. Vielleicht erfasst Macron ja die verzweifelte Kühnheit eines schwer gebeutelten Reformers, der sich dafür entschied, zu sagen: „Wenn wir nicht mutig sind, verlieren wir auf jeden Fall. Vielleicht verlieren wir auch und versuchen, mutig zu sein. Aber probieren sollten wir es.“ Diese Haltung würde ich Macron jedenfalls wünschen und ihm zudem wünschen, dass der Rest der EU überwiegend bereit ist, sich ebenfalls darauf einzulassen.

SONST NOCH

  • Für mein Regionalbüro in Thüringen (Erfurt) suche ich ab sofort Verstärkung in Form einer Teilzeitstelle (nicht mehr als 25 Stunden). Die Stelle eignet sich auch für Studierende oder für eine erste Berufserfahrung. Bitte richtet Eure Unterlagen bis zum 23.2. per E-Mail an caroline.falk@gruene-europa.de. Hier die Stellenausschreibung mit weiteren Informationen. Ich freue mich auf Eure Bewerbung. 
  • „Kritik an Olympia und IOC – Bütikofer sieht EU im ‚de-facto-Boykott‘“ – mein Interview mit dem ZDF.
  • Meine Pressemitteilung zum U.S.A.-Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz findet Ihr hier.
  • Die nächste Woche ist eine Straßburg-Woche, hier die regelmäßig aktualisierte Tagesordnung.
  • Am 14.2. nehme ich im Rahmen des Online-Diskussionsforums „Quo vadis, Europäische Normung? Die neue Normungsstrategie der EU-Kommission“ von DKE und DIN e. V. als Sprecher an der Diskussion zum Thema „Globale Standards setzen, die Europas führende Position in Schlüsseltechnologien unterstützen und europäische Werte hochhalten“ teil. Weitere Informationen sowie die Möglichkeit zur Anmeldung sind hier zu finden.
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