REGIERUNGSPARTEI! | BÜTIS WOCHE #215

Seit heute, dem 8. Dezember 2021, sind Bündnis 90/Die Grünen zum zweiten Mal an einer Bundesregierung beteiligt. Sehr vieles ist anders als zu jener rot-grünen Zeit verschwimmenden Angedenkens. 6,7 Prozent Stimmenanteil stand 1998 zu Buche, diesmal ist es mehr als doppelt so viel. Die SPD war damals mit 40,9 Prozent ein so dominanter Partner, dass der böse Spruch des Kanzlers Schröder vom Koch-Kellner-Verhältnis allgemein als plausible Beschreibung der Kräfteverhältnisse in der Regierung durchging. Damals hätte Schröder auch mit der FDP statt uns Grünen regieren können. Heute braucht Scholz uns beide. Im neuen Bundestag haben die zwei kleineren Partner der Ampel-Koalition zusammen mehr Sitze als die Sozialdemokratie, die trotz ihrer deutlichen Zugewinne im Wahlkampf tatsächlich ein Schatten der damaligen SPD ist. Wir Grüne gingen damals mit einer intensiv ausdiskutierten, keineswegs bescheidenen, aber thematisch begrenzten Prioritätensetzung in die Koalition; wir fokussierten uns auf den Atomausstieg, die Einführung einer Ökosteuer, ein neues Staatsbürgerschaftsrecht und die Zulassung von gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften. Das waren umwälzende Reformen, sicherlich, doch um eine Chance zu haben, sie durchzusetzen, mussten wir uns entscheiden, auf vielen anderen thematischen Feldern der Sozialdemokratie weitgehend freie Hand zu lassen: in der Wirtschaftspolitik, der Steuerpolitik, der Finanzpolitik, der Rentenpolitik, der Arbeitsmarktpolitik, um nur ein paar besonders wichtige zu nennen. Grüne Lieblingsprojekte, wie z. B. die Legalisierung von Haschisch, hatten „natürlich“ keine Chance.

Heute treten wir mit einem viel breiter ausgedehnten politischen Profil an. Wir werden, wie 1998, das Außenministerium haben. Wir werden wieder das Umweltministerium haben. Aber dazu kommen: das Superministerium für Wirtschaft und Klima und das Familienministerium; Landwirtschaft hatten wir schon mal unter Rot-Grün, nachdem wir bei der Gesundheitspolitik nicht so erfolgreich gewesen waren. Es ist 2021 auch gelungen, in zahlreichen anderen Bereichen, in denen die Exekutivverantwortung bei SPD oder FDP liegen wird, im Koalitionsvertrag sehr deutlich Grüne Ziele, Projekte, Maßnahmen zu verankern, einschließlich z. B., trotz der einen oder anderen Enttäuschung, im Bereich der Verkehrspolitik, in dem wir leider das Ministerium der FDP überlassen mussten. Etwas flapsig gesagt: Die Regierungsgrünen des Jahres 1998 waren ein Spezialitätengeschäft. Die Regierungsgrünen des Jahres 2021 sind ein Vollsortimenter.

Anders als bei Rot-Grün ist auch die Stimmung im Lande, auf die die neue Regierung trifft. 1998 war es wie eine Befreiung, Helmut Kohl endlich aus dem Zentrum der deutschen Politik zu verdrängen. 2021 hätten sich wahrscheinlich viele Bürgerinnen und Bürger sogar vorstellen können, die Ironie muss erlaubt sein, dass Kanzlerin Merkel die Ampel-Koalition anführt. Olaf Scholz jedenfalls scheint auf eine derartige Stimmung gebaut zu haben, denn er präsentierte sich im Wahlkampf als „Germany’s next Merkel“, Merkel minus Raute. Kanzlerin Merkel verlässt ihr Amt nicht, weil Deutschland ihrer überdrüssig geworden wäre, sondern weil sie will. Und entsprechend ist die Aufbruchseuphorie heute deutlich gedämpfter als damals. Vielleicht erinnern sich manche an das ikonische Bild der rot-grünen Führungstrias Schröder-Fischer-Lafontaine, die sich, Sektglas in der Hand, unbändig darüber freuten, die Regierungsmacht erobert zu haben. Ein kleines bisschen davon schien auf, als Linder, Wissing, Habeck und Baerbock von ihrem ersten heimlichen Treffen der Sondierungsgespräche ein Selfie publizierten. Doch dann dominierten andere Bilder, andere Stimmungen. Nüchternheit, Sorge, pragmatisches Bemühen. Das überschießende Selbstbewusstsein von 1998 zeigen diesmal selbst die Akteure nicht, die vom Charakter her vielleicht dazu neigen würden.

Die Stimmungslage im Land liegt nicht nur an der elenden, ewigen Pandemie. Sie reflektiert auch, dass viele der Grundorientierungen der deutschen Politik heute stärker angefochten sind als damals. Wie viel hilft uns das Bekenntnis zum Multilateralismus in einer Zeit neuer Großmachtpolitik? Wie verlässlich ist in Zukunft das transatlantische Bündnis? Wie definiert Deutschland, wie definieren wir gemeinsam in der EU die globale Verantwortung, die wir tragen? Können wir die wachsenden Nationalismen und Divergenzen innerhalb der EU tatsächlich bändigen und die europäische Politik produktiv wenden? Ist das ökonomische Geschäftsmodell Deutschlands mit der zentralen Bedeutung des Automobilsektors und einer starken Exportindustrie in den Bereichen Maschinen- und Anlagenbau, Chemie, Elektroindustrie angesichts der rapiden technologischen Umbrüche weiter tragfähig oder wie wird es umgebaut? Wie gehen wir mit den tiefer gewordenen Spaltungen in unserer Gesellschaft um? Wie begegnen wir den stärkeren Bedrohungen, denen unsere Demokratie durch Populismus, Bürokratismus und ihre eigenen Verkrustungen ausgesetzt ist?

Die internationale Lage hat sich in den letzten 23 Jahren radikal geändert. Zugespitzt gesagt: Als Gerd Schröder Bundeskanzler wurde, war China nach meiner Erinnerung bestenfalls einmal im Monat Thema der deutschen Politik. Heute berührt uns die Politik dieser neuen Supermacht täglich in ganz unterschiedlichen Dimensionen. Der Weg nach vorne, den die neue Bundesregierung gestalten will, ist insbesondere auch durch die drängende, fundamentale Aktualität des Klimawandels bestimmt. Damals kämpften wir Grüne dafür, dass ökologische Gesichtspunkte überhaupt Bestandteil der Regierungspolitik wurden. Heute muss die Regierung gemeinsam dafür kämpfen, dass eine ökologisch aufgeklärte und klimapolitisch verantwortungsvolle Transformation unserer Wirtschaft den Kern unseres Zukunftsentwurfes bildet.

Doch trotz all dieser großen Unterschiede ist für uns Grüne manches gar nicht anders, als es 1998 war.

Wir werden uns in geeigneter Weise darüber verständigen müssen, wie wir unsere politischen Ziele priorisieren, welche Themen wann eine Rolle spielen sollen und wie daraus ein kluges Gesamtpaket wird. Auch wenn wir doppelt so stark sind wie vor 23 Jahren, gilt: Man wird die Zahl seiner Erfolge nicht dadurch erhöhen, dass man die Zahl der Auseinandersetzungen beliebig steigert, die man gleichzeitig führt. Sicher können wir heute mit breiterer Brust antreten als damals. Wir haben wesentlich mehr Rückhalt in der Gesellschaft, einschließlich in Teilen der Wirtschaft. Und doch wird vieles auf die richtige Aufstellung unserer Tagesordnungen ankommen.

Zum Zweiten ist klar, dass wir Niederlagen und Rückschläge zu schlucken haben werden. Es wird Gesetze geben, die uns wichtig sind und bei denen wir trotzdem entscheidende Zielstellungen nicht verankern können. Das darf natürlich nicht ständig passieren und es sollte insbesondere dort nicht passieren, wo es für unser politisches Profil und unsere Ziele von herausragender Bedeutung ist, aber es wird nicht insgesamt zu vermeiden sein. Die elementare Wahrheit, dass in der demokratischen Politik der Kompromiss den Normalfall des politischen Fortschritts darstellt, gilt. Und wir werden uns dann im Einzelfall von der konkreten Enttäuschung nicht hinreißen lassen dürfen.

Drittens werden wir mit Entwicklungen konfrontiert sein, die wir, wie andere, nicht vorausgesehen haben. Dann hilft das Beharren auf den Buchstaben des Koalitionsvertrages nicht unbedingt weiter. Gerd Schröder hat damals mit einer gewissen Rücksichtslosigkeit gesagt: „Der Koalitionsvertrag ist keine Bibel.“ Schon rein literarisch ist das natürlich wahr. Ebenso, wie wir diese Einsicht zur Kenntnis nehmen müssen, müssen wir allerdings auch die Fähigkeit behalten, im geeigneten Moment weiterzugehen, als der Koalitionsvertrag vorgezeichnet hatte. Wenn eine politische Gelegenheit dazu sich eröffnet, wäre es ja irre, man würde sich darauf beschränken, einfach nur das Aufgeschriebene abzuarbeiten.

Viertens: Wir brauchen eine gute kollektive Führung, die ein verlässliches strategisches Zentrum bildet. Ein Einzelner alleine konnte damals nicht und kann heute nicht den Grünen Erfolg planen und anführen.

Fünftens: Es wird darauf ankommen, dass die Bundestagsfraktion und insbesondere auch die Partei in der Koalition ihre eigenständigen Rollen finden. Als reine Verlängerung des exekutiven Regierungshandelns würden sie politisch verkümmern. Das wird nicht ohne Konflikte abgehen. Aber gefährlicher wäre es, nur nach Konfliktvermeidungswegen zu suchen. Konflikt, wenn er zivilisiert ausgetragen wird, ist das Salz in der Suppe der Demokratie. Wir hätten die rot-grüne Regierungszeit kaum überstanden, wenn es uns nicht gelungen wäre, eine eigenständige Rolle für die Grüne Partei zu sichern.

Sechstens: Wir werden als Grüne Flügel haben und Flügelpolitik und Flügelauseinandersetzungen. Es wäre nicht clever, wenn diese ins Zentrum rückten. Falls man jedoch der Illusion folgen wollte, man könne diesen Teil der Realität ignorieren, würde man die Flügelkonflikte bestenfalls zeitweise unterdrücken, aber damit umso mehr vergiften.

Und siebtens schließlich: Den Auftrag zum Regieren haben wir jetzt. Aber zu glauben, wir müssten jetzt nur noch auf unsere schön ausgedachten Pläne achten, wäre falsch. 1998/99 haben wir einen solchen Fehler in schwerwiegender Weise gemacht. Weil wir entsprechend den vereinbarten Plänen das Staatsbürgerschaftsrecht durchziehen wollten, statt zuerst in die Gesellschaft zu hören, zu argumentieren, zu werben, boten wir Roland Koch die Gelegenheit für eine böse populistische Kampagne, die ihm die Ministerpräsidentenschaft in Hessen eintrug und uns kurz nach Regierungseintritt die Bundesratsmehrheit kostete. Deshalb ist die wichtigste Todsünde, die wir vermeiden müssen, die, dass wir politischer Selbstbezüglichkeit anheimfallen. Wir wollen unser Land mitführen, aber es hilft sicherlich, dabei die 11. Feuerbach-These von Marx nicht zu vergessen. In meinen Worten: Niemand kann Lehrer werden und bleiben, der nicht bereit ist, ständig neu von anderen zu lernen. Und zu diesen anderen müssen wir gerade auch diejenigen dazuzählen, die uns nicht unbedingt besonders nahestehen.

Ein Unterschied zwischen 1998 und 2021 ist übrigens auch dieser: Helmut Kohl hat Deutschland nie „Fröhlichkeit im Herzen“ gewünscht. Das hat Merkel gut gemacht und es ist ein weiterer Grund ihr dankbar zu sein, während wir sie hinter uns lassen.

Sonst noch

  • Meine Pressemitteilung zur Verlängerung der Menschenrechtssanktionen gegenüber chinesischen Verantwortlichen für Menschenrechtsverbrechen könnt Ihr hier nachlesen.
  • Diplomatischer Boykott von Olympia/Neue Außen- und Sicherheitspolitik – mein Interview im Deutschlandfunk.
  • Am 7.12 habe ich die Online-Diskussion „Chinese Party Politics after the 6th Plenum“ mit Johnny Erling (Journalist) und Richard McGregor (Lowy Institute) veranstaltet. Hier die Aufzeichnung.
  • Meine Pressemitteilung im Vorfeld der Veröffentlichung des Kommissionsvorschlags zum Schutzinstrument gegen ökonomische Zwangsmaßnahmen findet Ihr hier.
  • Am 8.12 hat Bertram Lang seine Studie „Addressing the Civil Society Blindspot in European China Policy“ vorgestellt. Christina Sadeler hat die Online-Veranstaltung moderiert, deren Gastgeber ich war. Hier die Aufzeichnung.
  • Die nächste Woche ist eine Straßburg-Woche, hier die regelmäßig aktualisierte Tagesordnung.