Die Koalitionsvereinbarungen der letzten drei Großen Koalitionen von 2005, 2013 und 2018 umfassten jeweils 142, 185 und 175 Seiten. Die Koalitionsvereinbarung der kommenden Ampel-Regierung wird wohl deutlich kürzer ausfallen, obwohl mit insgesamt rund 300 Personen wesentlich mehr Menschen an den Verhandlungen beteiligt sind als in jenen Fällen. Doch von der Länge abgesehen wird der Koalitionsvertrag, der gar kein Vertrag im eigentlichen Sinne ist, sondern eine politische Absichtsbekundung, natürlich von allen Seiten daraufhin optimistisch bis misstrauisch beäugt werden, ob er die jeweils erhofften politischen Signale aussendet oder nicht. Manchmal ist ja schon die Verwendung oder das Fehlen eines einzelnen Begriffes genug, um Erwartungen zu erfüllen oder zu enttäuschen. Während die Verhandlungen noch laufen, ist es dennoch kein Hexenwerk, vorauszusagen, dass es für die AnhängerInnen aller Verhandlungsparteien nicht nur Zufriedenheit geben kann. Ein realistisches und politisch sehr wichtiges Ziel ist es dagegen, dass die Jubelrufe und die Seufzer zwischen den drei Seiten einigermaßen gleich verteilt sein werden und dass die positiven Reaktionen insgesamt überwiegen. Schließlich soll es ja eine Koalition des Aufbruchs werden.
1969, als Sozialdemokraten und Freie Demokraten zum ersten Mal koalierten und es die Grünen noch gar nicht gab, verlief das ganz anders. „1969 hatte man die wesentlichen inhaltlichen Fragen in den hin- und hergehenden Entwürfen zur Regierungserklärung des neuen Bundeskanzlers Willy Brandt präzisiert. Mehr brauchte man zunächst nicht“, schrieb Politik & Kommunikation in einem Artikel. Welch ein Unterschied. Allerdings war der Entscheidung für die sozialliberale Koalition eine klare Ansage von Willy Brandt gegenüber dem FDP-Vorsitzenden Walter Scheel vorausgegangen, wie mir Hans-Dietrich Genscher einmal erzählte. Brandt habe Scheel nicht nur die Vizekanzlerschaft und die freie Auswahl der FDP-Ministerien angeboten, sondern auch erklärt, man werde so regieren, dass die FDP dabei erfolgreich sein könne. Willy Brandt hatte offensichtlich sehr gut verstanden, welch großes parteipolitisches Risiko die FDP mit der neuen Koalition einging, und daraus angemessene Schlussfolgerungen gezogen. Eine ähnliche Haltung wie Brandt gegenüber der FDP 1969 zeigte Ole von Beust bei der Bildung der schwarz-grünen Koalition in Hamburg 2008, als er dieses Bündnis damit begründete, die Hamburger Grünen stünden für Positionen, die der Hansestadt guttun würden, und er wolle, dass diese zum Tragen kämen. Die sozialliberale Koalition im Bund zerbrach 1982, als das Anfangsvertrauen aufgebraucht war; die schwarz-grüne Hamburger Koalition war an dem Punkt schon nach zwei Jahren.
Keine Koalition funktioniert ohne eine gute Portion Vertrauen zwischen entscheidenden Akteuren. So war das bei Rot-Grün zwischen Schröder und Fischer oder bei der GroKo danach zwischen Merkel und Müntefering. Doch auf Vertrauen alleine können die Brücken nicht gebaut sein, die notwendig sind, um mit einer Koalitionsregierung erfolgreich zu sein. Es muss ein strategisches Kalkül dazukommen: Die Akteure müssen überzeugt sein, dass der Erfolg der Partner dem eigenen nicht grundlegend im Wege steht. Das war bei der ersten rot-grünen Koalition zwar aus Grüner Perspektive klar, aber Gerd Schröder ließ mehrfach Zweifel daran aufkommen, dass er diese Haltung teile. Erst sprach er davon, der Koalitionsvertrag sei keine Bibel, was natürlich stimmt, aber damals vor allem geeignet war, Zweifel an seinem Willen zur Erfüllung des Vertrages zu streuen. Dann versuchte er, uns Grüne durch Spaltung zu schwächen, indem er verkündete, man brauche „mehr Fischer, weniger Trittin“. Und schließlich deutete er die Partnerschaft in ein Herr-Knecht-Verhältnis um, als er den Spruch tätigte, die SPD sei Koch, die Grünen nur Kellner. Die rot-grüne Koalition war aus unserer Sicht trotzdem ein Erfolg, weil es uns mit bemerkenswerter Disziplin und Konzentration auf wenige Prioritäten gelang, wesentliche Veränderungen durchzusetzen, die unser Land seither mitprägen: den Atomausstieg, die gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften, die Ökosteuer, das modernisierte Staatsbürgerschaftsrecht und die Gesetzgebung zum Schutz von Frauen gegen Gewalt. Gesundes Misstrauen, würde ich sagen, steht einem Erfolg sehr unterschiedlicher Partner nicht im Wege, wenn es nicht alles vergiftet und durch ein solides strategisches Kalkül eingehegt wird.
Die Koalition, auf die wir gerade zusteuern, wird in einer entscheidenden Hinsicht von allen, die unser Land bisher auf Bundesebene kannte, unterschieden sein. Es gibt keine eine große Partei mehr, die von einer oder zwei Ergänzungsparteien unterstützt wird, sondern drei mittlere Parteien, die jeweils den Anspruch vertreten, diesem Land mit ihrer Orientierung nach vorne zu helfen, ringen miteinander um eine angemessene Balance. Aus Grüner Sicht heißt das z. B., dass wir uns nicht nur auf einige politische Leuchttürme konzentrieren können, wie wir das 1998 taten, erfolgreich zwar, aber um den Preis, in allen anderen Politikfeldern im Wesentlichen der Sozialdemokratie die Gestaltung zu überlassen, obwohl wir durchaus überzeugt waren, bei der Renten- oder der Steuerpolitik bessere Konzepte zu haben. Diesmal versuchen wir, zu erreichen, dass in allen Politikbereichen auch eine Grüne Handschrift zu erkennen sein wird. Umgekehrt können wir nicht erwarten, dass unsere Verhandlungspartner akzeptieren, dass ihre Gestaltungsideen bei den Themen, die für uns besonders prioritär sind, keinerlei Rolle spielen sollten. Das österreichische Koalitionsmodell, wonach unterschiedliche Koalitionspartner für einzelne Bereiche ganz alleine zuständig sein sollen, halte ich nicht für fruchtbar, und zwar besonders deswegen nicht, weil die große Transformation und der große Aufbruch, die erforderlich sind, ohne Ineinandergreifen der unterschiedlichen Bereiche kaum funktionieren können.
Es wäre im Übrigen frivol, zu glauben, man könne zu Beginn einer vierjährigen Regierungsperiode durch möglichst detaillierte Festlegungen Sicherheit schaffen über den Weg nach vorne. Tatsächlich sind die letzten Regierungen alle mindestens ebenso stark von Entwicklungen beeinflusst worden, die nicht vorausgesehen worden waren und für die man dann eben unterwegs Antworten finden musste. Zudem sollte jede Regierung sich eingestehen, dass die Weisheit der Regierenden die kollektive Weisheit der Regierten bestenfalls annähernd erreicht, aber nie übertrifft. Eine aktive Gesellschaft, die sich einmischt, ist deswegen das Beste, was einer Regierung passieren kann. Und wir sollten darauf vertrauen, dass uns das möglicherweise gerade an Punkten, zu denen wir nicht gleich befriedigende Antworten finden, zu einem zweiten Atem und damit dann doch noch zu einem Weg nach vorne verhilft.
Und jetzt hoffe ich natürlich auf eine prima Koalitionsvereinbarung, die es erlaubt, auf eine Regierung des Aufbruchs zu setzen.
Sonst noch
- Am 27.10. war ich Gast bei der Online-Diskussion „Politische und wirtschaftliche Beziehungen zwischen der EU und China“ der Heinrich-Böll-Stiftung Hessen. Schaut gerne in die Aufzeichnung rein.
- In der nächsten Woche findet das Miniplenum des Europäischen Parlaments statt, hier die regelmäßig aktualisierte Tagesordnung.
- Am 12.11. diskutiere ich mit der AG Europäische Wirtschaftspolitik der Europa-Union im Rahmen der digitalen Reihe „Europas Rolle in der Welt“ über die EU-Außen- und Handelspolitik. Hier gibt es weitere Informationen sowie die Zugangsdaten.
- Interesse an einem Praktikum in meinem Brüsseler Büro ab dem 10. Januar 2022? Dann bewerbt Euch bis zum 15. November 2021. Alle Informationen findet Ihr hier.
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