An Polen scheiden sich in Europa derzeit die Geister. Nein, natürlich nicht an Polen, dem Land, sondern an der Politik der von Jarosław Kaczyńskis PiS-Partei geführten rechtsnationalistischen Koalitionsregierung in Polen. Die allerdings hat, sofern man Umfragen ernst nehmen kann, durchaus eine gute Chance, bei der kommenden Wahl wieder eine Mehrheit zu ergattern. Die politische Lage in Polen erscheint als Paradox. Auf der einen Seite gibt es kaum ein anderes EU-Mitgliedsland, in dem das Bekenntnis zur Europäischen Union so hohe Umfragewerte erzielt wie in Polen. Andererseits verfolgt die demokratisch gewählte Regierung Polens einen Kurs, der, wenn man ihn logisch zu Ende denkt, mit großer Wahrscheinlichkeit auf einen Polexit hinauslaufen müsste. Wie geht das zusammen? Kann es sein, dass die in Brüssel vorherrschende Betrachtungsweise, wonach Polen sich schlicht entscheiden müsse, welche Zukunft das Land haben will, vermeintlich simple Alternativen anbietet, die der verwirrenden Realität nicht gerecht werden?
Ich glaube, das sage ich gleich vorweg, dass die Schwierigkeiten, die wir in der EU mit Polen haben, nicht nur an Polen liegen. Ich glaube auch, wir müssen Polen gegenüber eine dialektische Politik zustande bringen, die es schafft, gegenüber diesem Land als einem wichtigen Akteur im Konzert der EU-Familie sichtbar und ernsthaft Respekt zum Tragen zu bringen, als ob es die von der PiS-Regierung verursachten Probleme, insbesondere mit europäischer Rechtsstaatlichkeit, nicht gäbe, und sich zugleich von diesem Respekt nicht daran hindern zu lassen, eben diese Probleme mit großer Entschiedenheit und, wo nötig, auch Härte anzugehen. Solange uns das nicht gelingt, tragen wir, ob wir das wollen oder nicht, dazu bei, dass diese Zerreißprobe eben nicht konstruktiv aufgelöst werden kann.
Ich muss gestehen, dass ich ein emotionales Verhältnis zu Polen habe. Zum ersten Mal kam ich mit dem Land noch als Schüler in Kontakt, der Esperanto lernte, eine Sprache, die im Jahr 1887 von Dr. Zamenhof, einem Polen, veröffentlicht worden war. Radio Polen brachte damals Sendungen auf Esperanto und so hörte ich öfter Radio Varsovia zum Üben. Während meines Schuljahres in den U.S.A. lernte ich die Gestalt des polnischen Nationalhelden Tadeusz Kościuszko kennen, der im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg gegen England mitgekämpft hatte, die Aufklärung unterstützte, für die Abschaffung der Sklaverei eintrat und vergeblich gegen Russland und Preußen kämpfte, die Polen zusammen mit Österreich unter sich aufgeteilt hatten. Der Überfall Hitler-Deutschlands auf Polen 1939, der Aufstand im Warschauer Ghetto und der Warschauer Aufstand waren Fixpunkte meines Geschichtsbildes und sind es geblieben.
Irgendwann später begeisterte ich mich für den sozialistisch-systemkritischen, anti-stalinistischen „Offenen Brief“ von Jacek Kuroń und Karol Modzelewski an die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei aus dem Jahr 1964. Als 1981 die Gewerkschaft Solidarność ihre begeisternde, katholisch-fromme Rebellion begann, gehörte ich in Heidelberg zu den Mitinitiatoren eines Komitees „Solidarität mit Solidarność“. Bei der Mitgliederversammlung der Vereinigten Deutschen Studentenschaften 1982 kämpfte ich als AStA-Vertreter zwei Tage lang zusammen mit den Basisgruppen gegen den MSB Spartakus dafür, dass die Studentenorganisation von Solidarność reden durfte; mit Erfolg. 1987 besuchte ich Polen zum ersten Mal, um in Kraków beim oppositionellen Polski Klub Ekologiczny, den es anscheinend immer noch gibt, einen Vortrag über den Grünen Kampf für den Atomausstieg zu halten. Der Sieg von Solidarność in Polen erschütterte das Sowjetsystem so sehr, dass in seiner Folge auch die Mauer und die Deutsche Teilung überwunden werden konnten. Polen sprach sich, anders als Frankreich und Großbritannien, von Anfang an für die Deutsche Einheit aus. Das war, angesichts aller dunklen Zeiten in der deutsch-polnischen Geschichte, ein bemerkenswertes Zeichen für den Willen zur Versöhnung. Ich lernte dann rückblickend auch den berühmt gewordenen Brief der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder von November 1965 kennen, in dem es 20 Jahre nach Ende des Vernichtungskrieges den unglaublichen Satz gibt: „Wir gewähren Vergebung und bitten um Vergebung.“
Als 1990 Helmut Kohl noch zögerte, die Oder-Neiße-Linie als endgültige deutsch-polnische Grenze anzuerkennen, reiste der damalige baden-württembergische Ministerpräsident Erwin Teufel nach Polen, um einen Gegenakzent zu setzen, und brachte im Landtag nach seiner Rückkehr seine Überzeugung zum Ausdruck, dass in den kommenden Jahrzehnten die deutsch-polnische Aussöhnung eine ebenso große Rolle werde spielen müssen wie in den zurückliegenden Jahrzehnten die deutsch-französische. Mich hat das sehr beeindruckt. 1991 initiierte Außenminister Genscher zusammen mit seinen polnischen und französischen Amtskollegen Skubiszewski und Dumas das Weimarer Dreieck. Diese Idee begeisterte mich und ich bin bis heute ein Anhänger dieser Zusammenarbeit. Die EU-Mitgliedschaft Polens 2004 bedeutete für mich die Schließung einer tiefen Wunde. Und nun, 17 Jahre später, können wir nicht mehr miteinander zurechtkommen?
An den Verstößen der polnischen Regierung und der Mehrheit des polnischen Parlaments gegen rechtsstaatliche Grundsätze, die in der EU gelten müssen, und insbesondere gegen das Prinzip richterlicher Unabhängigkeit, gibt es nichts zu deuteln. Auch der berechtigte Hinweis, dass es Verstöße gegen Rechtsstaatlichkeit nicht nur in Polen und Ungarn gebe, ändert nichts. Unverzeihlich finde ich auch, dass nationalistische und extremistische Agitation in Polen die Rechte von Minderheiten und die Rechte der Frauen einzuschränken sucht, wie es etwa bei der Ausrufung LGBT-freier Zonen und in der Abtreibungsgesetzgebung der Fall war. Das kann die EU nicht ignorieren, sondern muss dagegen handeln mit verlässlicher Konsequenz. Doch das ist, und deswegen habe ich zu Anfang von Dialektik gesprochen, nur eine Dimension im Verhältnis zwischen Polen und dem Rest der EU, vor allem Deutschland. Eine andere Dimension ist, dass polnische Perspektiven, polnische Anliegen und polnische Interessen in der EU und auch in Deutschland nicht so ernst genommen worden sind, wie sie das verdient hätten. Das Musterbeispiel dafür ist Nord Stream 2. Die Pipeline gefällt nicht nur Warschau nicht, sondern sie gefährdet tatsächlich polnische Sicherheitsinteressen, weil sie für Putins revisionistische Politik zusätzliche Hebel schafft. Es gibt aber auch andere Beispiele. Statt an der durch das Weimarer Dreieck vorgegebenen Grundidee einer Erweiterung der klassischen deutsch-französischen Achse in der EU aktiv weiterzubauen, hat Berlin viel zu oft versucht, mit Frankreich an Polen vorbei zu agieren. So zuletzt wieder bei dem glücklicherweise gescheiterten Vorstoß von Merkel und Macron zu einem Gipfel mit Putin, der als Überraschungscoup präsentiert wurde. So auch in der Flüchtlingspolitik 2015/2016, als polnische Einwände, neben den tschechischen, slowakischen usw., gegen die verbindlichen Verteilungsquoten für Flüchtlinge innerhalb der EU nicht wirklich ernst genommen wurden. Im Nachhinein ist es kaum noch streitig, scheint mir, dass ein flexibleres Vorgehen erfolgreicher und ganz gewiss weniger spaltend gewesen wäre. Aber als Gesine Schwan, die ehemalige Polen-Beauftrage der Bundesregierung, einen entsprechenden Vorschlag machte, steckte der politische Karren schon im Morast fest.
Bundeskanzlerin Merkel hat gegenüber Polen zugleich zu wenig und zu viel getan. Ein Beispiel für das Zuwenig: Zum 100. Jahrestag der Wiederherstellung der polnischen Unabhängigkeit 2018 hatte ich die Anregung einiger deutschfreundlicher polnischer Intellektueller an das Kanzleramt weitergetragen, man könnte doch vielleicht zur Feier dieses Ereignisses in Berlin eine offizielle Veranstaltung machen. Die Reaktion aus dem Kanzleramt war kühl und ablehnend. Es ist auch nicht bekannt, dass die Kanzlerin sich dafür eingesetzt hätte, das schon lange überfällige Denkmal für die polnischen Opfer in Berlin zustande zu bringen, für das sich Abgeordnete wie Dietmar Nietan oder Manuel Sarrazin engagiert lange eingesetzt haben. Andererseits war Merkel lange Zeit duldsam, wie ja auch gegenüber Viktor Orbán in Ungarn, als immer deutlicher wurde, auf welchen zweifelhaften Weg Jarosław Kaczyński sein Land führte. Sie überließ die Aufgabe, dagegen Widerstand zu leisten, der Europäischen Kommission und dem Europäischen Parlament, obwohl diese institutionell ohne massive Unterstützung großer Mitgliedsländer dafür schlicht nicht stark genug sind.
Wir brauchen, meine ich, eine neue deutsche Polen-Politik, die die Hand reicht und zugleich konsequent für die Durchsetzung gemeinsamer Prinzipien eintritt. Das gehört zusammen. Man darf nicht das eine für das andere vernachlässigen. Aber natürlich hat ein jegliches seinen Ort und seine Zeit. Als Armin Laschet während des Bundestagswahlkampfes an den Feierlichkeiten zur Erinnerung an den Warschauer Aufstand teilnahm, weigerte er sich zu Recht, bei dieser Gelegenheit auch noch Interviews zu geben, in denen er nach dem Ansinnen verschiedener Medien die polnische Hartleibigkeit gegenüber dem Europäischen Gerichtshof hätte kritisieren sollen. Er tat recht daran, das zu trennen. Der Respekt gegenüber dem polnischen Volk, den er durch seine Anwesenheit demonstrierte, wäre sonst völlig entwertet worden. Aber natürlich heißt das nicht, dass Deutschland, und das schließt neben der Bundesregierung auch alle demokratischen Parteien ein, darauf verzichten könnte, dem EuGH entschieden die Stange zu halten, und das auch konsequent gegenüber Warschau zu vertreten. Für die erforderliche neue Anstrengung gegenüber Polen ist Nord Stream 2 eine schwere Belastung, aber der Versuch muss trotzdem gemacht werden. Und die neue Bundesregierung kann, wenn sie das versteht, dafür auch Zeichen setzen.
Die Bundeskanzlerin hat bei ihrem letzten Brüsseler Europagipfel dafür geworben, den Konflikt mit Polen politisch anzugehen und ihn nicht nur auf eine juristische Auseinandersetzung zu fokussieren. Ich glaube, sie hatte damit recht, auch wenn sie nicht einmal andeutete, wie sie sich das vielleicht vorstellt. Ich sehe ihre diesbezügliche Äußerung übrigens im Zusammenhang mit ihrem großen Abschiedsinterview mit der Süddeutschen Zeitung, in dem sie davon sprach, Kompromissfindung werde in der EU immer schwieriger, und offen in Zweifel zog, welcher Zukunftsperspektive die EU wohl folgen werde. Sie verwendete in diesem Zusammenhang das Wort Sorge, das etwas unscheinbar daherkommt, aber im Merkelschen Sprachgebrauch wohl Ausdruck außerordentlich großer Befürchtungen ist. Mit Selbstgerechtigkeit jedenfalls, und möge sie auf ein noch so schönes Fundament gebaut sein, lassen sich komplizierte Verhältnisse nicht bewältigen, hier nicht und auch sonst nicht. Und vielleicht könnte ja eine Politik gegenüber Polen, die neben der Kritik und dem Grenzenziehen auch Demut, Respekt und Solidarität deutlich macht, dazu beitragen, dass in Polen die große Mehrheit derer, die so entschieden europäisch denken, einen Weg findet, der rechtsnationalistischen Regierung den Laufpass zu geben, die bisher sehr geschickt das Gefühl, in Europa nicht die angemessene Rolle spielen zu können, geschürt und ausgeschlachtet hat, um sich Rückhalt für eine Politik zu sichern, die eigentlich keine Perspektive europäischer Gemeinsamkeit zulässt.
Sonst noch
- Dieses Mal kommen meine Plenarnotizen nicht aus Straßburg, sondern aus Berlin. Hier habe ich die ganze Sitzungswoche verbracht, um u. a. die Koalitionsverhandlungen vorzubereiten.
- Ich habe im Plenum digital zum ersten eigenständigen Taiwan-Bericht des Europäischen Parlaments gesprochen. Meine Pressemitteilung zur Annahme des Berichts findet Ihr hier.
- Meine Pressemitteilung zum Außenministerrat der EU könnt Ihr hier und meine Pressemitteilung zum EU-Gipfeltreffen hier nachlesen.
- HRVP Borrell’s visit to Washington – meine Pressemitteilung.
- Am 17.10. habe ich gemeinsam mit Agata Łoskot-Strachota in der Welt einen Beitrag zu Nord Stream 2 veröffentlicht. Die neue Bundesregierung hat drei Optionen.
- Gemeinsam mit 35 weiteren Abgeordneten des Europäischen Parlaments bringe ich in einem offenen Brief an EU-Kommissionsvizepräsident Dombrovskis und den Hohen Repräsentanten Borrell meine Besorgnis über die Geschwindigkeit, mit der die laufenden Verhandlungen über die Modernisierung des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und Chile geführt werden, zum Ausdruck.
- Am 27.10. nehme ich als Sprecher an der Online-Diskussion „Politische und wirtschaftliche Beziehungen zwischen der EU und China“ der Heinrich-Böll-Stiftung Hessen teil. Hier gibt es weitere Informationen.
Foto: © European Union 2021 – Source : EP | Frederic MARVAUX