Nach der heutigen außerordentlichen Sitzung der AFET- und DEVE-Ausschüsse zu Afghanistan meint Reinhard Bütikofer, AFET-Koordinator der Grüne/EFA-Fraktion im Europäischen Parlament:
“Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell hat die politische, strategische und moralische Tragweite der Afghanistan-Katastrophe realistisch beschrieben. Sehr hilflos wirkte er angesichts der Tatsache, dass derzeit nicht einmal sicher ist, ob die EU-Mitgliedstaaten sich über die Aufnahme der 106 Afghanen einigen können, die für die EU-Institutionen gearbeitet hatten und vorläufig nach Spanien gebracht wurden. Ebenfalls offen blieb bei dem Treffen, warum die EU ihre Möglichkeiten für eine gemeinsame Evakuierungsmission nicht ausgeschöpft hat.
Afghanistan wurde nicht militärisch verloren, es wurde politisch verloren. Die Taliban sind mit all den Waffen, die ihnen ohne nennenswerte Kämpfe in die Hände gefallen sind, heute besser gerüstet als viele EU-Mitgliedsländer. Wir müssen damit rechnen, dass sie diese Stärke nutzen, um ihre extremistischen Ziele nicht nur innerhalb der afghanischen Grenzen voranzutreiben.
Der desaströs schlecht organisierte Rückzug der Koalitionstruppen wird auch neue Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und der EU mit sich bringen. Es ist weder plausibel noch historisch korrekt, wenn Präsident Biden nun argumentiert, dass das “nation building” in Afghanistan nie beabsichtigt gewesen sei. Der Westen muss sich entscheiden zwischen einer ehrlichen Überprüfung seiner Afghanistan-Politik der letzten 20 Jahre und lahmen Ausreden, die niemanden außer uns selbst täuschen können. Josep Borrell hat die Katastrophe in Afghanistan als das einschneidendste internationale Ereignis seit der Besetzung der Krim durch Russland bezeichnet. Das ist vielleicht sogar eine Untertreibung. Jedenfalls haben die Ereignisse der letzten Wochen die USA und Europa sowie die internationale Ordnung in vielerlei Hinsicht geschwächt und unseren Rivalen Auftrieb gegeben.
Ist das ein Weckruf für die Europäische Union? Nein, die Lage ist viel schlimmer. Ohne die Bereitschaft der EU-Mitgliedstaaten, echte Schritte in Richtung einer gemeinsamen Außenpolitik zu unternehmen – welche derzeit nicht in Sicht ist -, werden die vielbeschworene strategische Autonomie und europäische Souveränität weiterhin leere Floskeln bleiben, hinter denen sich auch künftig die Erosion europäischer Wichtigkeit verbergen wird.