Gastkommentar von Anna Cavazzini und Reinhard Bütikofer (Wirtschaftswoche)
In wenigen Tagen kommt US-Präsident Joe Biden erstmals nach Europa. Die Chancen für eine neue Ära der transatlantischen Kooperation sind immens groß. Doch das Zeitfenster, sie zu nutzen, ist klein.
In der internationalen Politik positiv überrascht zu werden ist für die Europäische Union (EU) ein seltenes Erlebnis. Umso erfreulicher ist es, dass dies im Verhältnis zu den USA seit dem Amtsantritt von Präsident Joe Biden zu konstatieren ist. Gerade die schwierigen Themen der Handelspolitik spielen dabei eine tragende Rolle. Mitverantwortlich ist die beiderseits des Atlantiks stärker wahrgenommene Herausforderung durch China. Eine Rückkehr zu TTIP wird es nicht geben. Zudem kann der dringend benötigte Aufbruch einer transatlantischen Handelsagenda nur gelingen, wenn beide Seiten alte Streitfragen zu Airbus/Boeing und zu den Stahl- und Aluminiumzöllen aufarbeiten und sich auf zukunftsgerichtete Kooperationsfelder konzentrieren.
Zunächst müssen die USA und die EU in einem ersten Kooperationsfeld die Welthandelsorganisation (WTO) wieder ins Zentrum der multilateralen Handelsordnung rücken. Bidens Entscheidung, die Ernennung einer neuen WTO-Generaldirektorin nicht länger zu blockieren, war ein unverzichtbarer erster Schritt. Insgesamt braucht es nun einen Dreiklang aus Streitbeilegung, Reform und Neuorientierung.
Der frühere EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und Ex-US-Präsident Donald Trump gründeten 2018 eine transatlantische WTO-Arbeitsgruppe. Durchaus konstruktiv verliefen in den vergangenen Jahren trilaterale Gespräche zwischen USA, EU und Japan über neue Ansätze beim Vorgehen gegen nach WTO-Recht illegale Subventionen vor allem Chinas. Mit höchster Priorität müssen die Gespräche über die Wiederbelebung des unabhängigen, zweistufigen Streitschlichtungsgremiums der WTO angepackt werden. Dazu muss die EU ihre Modernisierungsvorschläge für das WTO-Regelwerk wieder hervorholen. Die Vorschläge sind vielversprechend, weil die EU-Kommission darin auf die Kritik der Amerikaner an der WTO eingeht und die veränderte Weltwirtschaft im Blick hat. Auch adressiert sie den digitalen Handel mit Waren und Dienstleistungen, erzwungene Technologietransfers und unfaire Staatssubventionen.
Es liegt im beiderseitigen Interesse, die Zusammenarbeit mit gleichgesinnten Partnern auf der internationalen Handelsebene zu stärken. Zum Beispiel, indem neben Japan weitere Staaten eingeladen werden, eine starke Front gegen unfaire Handelspraktiken zu bilden. Der Vorschlag der EU-Generaldirektorin für Handel für eine EU-US geführte Initiative bei der WTO, um Regeln zur Gewährleistung der Wettbewerbsneutralität zu entwickeln, muss weiterverfolgt werden.
Ein zweites Kooperationsfeld ist die dringend benötigte Ökologisierung der Handelsbeziehungen. Der Klimagipfel in Glasgow im November 2021 bietet eine erste Zielmarke für ambitionierte CO2-Einsparziele und eine Klimaschutzfinanzierung. Entscheidend wird sein, ob die Biden-Administration den Ball auffängt, den die EU ihr zuwirft, beispielsweise einem CO2-Grenzausgleichsmechanismus für die Industrie beizutreten. Gleichzeitig gilt es, auf WTO-Ebene die klimafreundliche Produktion von Industriegütern durch abgesenkte Zölle zu belohnen und die Regeln der WTO dort anzupassen, wo sie den Pariser Klimazielen widersprechen. Einen weiteren Anknüpfungspunkt bietet der bisher wenig fortgeschrittene OECD-Dialog zum Ende staatlicher Unterstützung für fossile Brennstoffe. Eine von den USA angeregte Allianz für grüne Technologien würde zudem dazu beitragen, transatlantische Produktstandards zu schaffen. Erheblichen Spielraum für klimapolitische Zusammenarbeit gibt es im transatlantischen Raum auch zwischen Bundesstaaten und Regionen.
Neben den entscheidenden Klimafragen gilt es, die technologische Transformation in einem dritten Kooperationsfeld abzudecken. Der Vorschlag der US-Finanzministerin Janet Yellen für eine globale Mindestbesteuerung von Unternehmen eröffnet dafür wichtige Spielräume. Die Biden-Administration zeigt sich offener gegenüber einer Digitalkonzernsteuer auf OECD-Ebene als die Trump-Administration es tat, das muss die EU nutzen und die Gespräche fortführen. Der von der EU vorgeschlagene Rat für Handel und Technologie würde die Systemrivalität mit China auf seinem Tisch liegen haben, einen Austausch zu technologischen Fragen ermöglichen und für deren Lösung einen institutionellen Rahmen schaffen. Die Beteiligung der Parlamente auf beiden Seiten des Atlantiks ist Grundvoraussetzung für diesen Technologiedialog. In der Handelspolitik müssen die USA und die EU koordinierte Chinastrategien entwickeln. Eine Plattform dafür bietet der vom EU-Außenbeauftragten Josep Borrell und US-Außenminister Antony Blinken jüngst wiederbelebte bilaterale Dialog zu China. Schließlich braucht es transatlantisch koordinierte Politikangebote, um weltweit Partnerländer in ihrer Entwicklung zu stärken.
Viel Zeit, um die ambitionierte Agenda voranzutreiben, bleibt den transatlantischen Partnern nicht. Die EU steht unter Druck, einen guten Ausgang aus der Pandemie zu finden. In zwei Jahren wählen die USA einen neuen US-Kongress. Je nach Ausgang der Wahlen könnte sich das Kräfteverhältnis zuungunsten Bidens verschieben. Beide Seiten brauchen daher Erfolge, und gegeneinander haben sie es schwerer. Das EU-Parlament und die nationalen Parlamente können dabei im Austausch mit dem Repräsentantenhaus und dem US-Senat eine aktive Rolle spielen.
Photo by Jon Tyson on Unsplash