Im Auswärtigen Ausschuss des Europäischen Parlaments fand diese Woche eine allgemeine Aussprache über die Lage und die Politik der EU auf dem westlichen Balkan statt. Das Fazit lässt sich in drei Worten zusammenfassen: hilflos. belämmert. gefährlich. Der westliche Balkan ist eine Region, die von Vielerlei Instabilität geprägt wird. Ein kleines Beispiel aus dem praktischen Alltag: Vor ein paar Monaten war die Außenministerin von Bosnien und Herzegowina (BiH) Bisera Turković in Brüssel und barmte in verschiedenen Gesprächen um einige wenige tausend Covid-19 Impfseren. Ich fragte sie, wieviel sie mindestens bräuchte, und ihre erschreckende Antwort war: „Wenigstens 6.000!“ In der Republika Srpska, so erklärte sie, gäbe es aufgrund von Belgrader Vermittlung Zugang zu russischem Impfstoff. Die bosniakisch-kroatische Seite habe sich auf den Westen verlassen und müsse nun hilflos zur Kenntnis nehmen, dass sie mit leeren Händen dastehe. Das sei extrem destabilisierend. Wenn es wenigstens einige tausend Seren gäbe, könnte man immerhin mit dem Impfen anfangen. Ich konnte ihr nicht helfen, aber eine meines Erachtens viel zu große Zahl von Wochen später gab es dann von der EU doch noch entsprechende Unterstützung, und zwar im sechsstelligen Bereich. Wie die politische Wahrnehmung des gesamten Vorgangs in Bosnien und Herzegowina war, weiß ich nicht. Ich bin jedoch überzeugt, dass dieses Beispiel typisch ist. Statt strategisch vorausschauend zu handeln, lässt sich die EU lange bitten, tut dann durchaus auch Richtiges, aber schafft es nicht, dass daraus eine Politik der Hoffnung wird. Hoffnungen sind im westlichen Balkan über die letzten Jahre viele unter die Räder gekommen. Wie lange hofft man im Kosovo schon auf Visa-freie Reisemöglichkeiten in die EU? Wie lange hofft die zersplitterte und deswegen kraftlose Opposition in Serbien schon, dass die Beitrittsperspektive helfen könnte, die autokratischen und antifreiheitlichen Tendenzen des dortigen Vučić Regimes wenigstens einzuhegen. Wie lange hoffen Albanien und Nordmazedonien schon, dass die versprochenen Beitrittsverhandlungen mit ihnen endlich anfangen. Nordmazedonien wurde vor mehr als zwanzig Jahren zum ersten Mal eine Beitrittsperspektive in Aussicht gestellt. Nach endloser Verzögerung von seiten Griechenlands rang sich die, von den dortigen Grünen parlamentarisch unterstütze, sozialistische Regierungspartei dazu durch, in einem großartigen Akt nationaler Selbstverleugnung, den eigenen Staatsnamen zu ändern und sich nicht mehr Mazedonien, sondern Nordmazedonien zu nennen, und jetzt geht es doch nicht voran. Wie sehr hoffte die neue Regierungsmehrheit in Montenegro nach der Überwindung des Stillstands, der die lange Ära des Ministerpräsidenten Đukanović geprägt hatte, auf energische politische Unterstützung aus Brüssel. Doch als man vorsichtig wegen Hilfe gegen die drohende Schuldabhängigkeit von chinesischen Krediten anklopfte, die die Vorgängerregierung gegen europäischen Rat für eine extrem teure chinesische Autobahn aufgenommen hatte, da gab es aus der Kommission die kalte Schulter. Weiterhin hängen viele politische Akteure in der ganzen Region mit dem Mut der Verzweiflung an der Hoffnung auf eine europäische Integrationsperspektive, oder wie es auf Englisch so plastisch heißt: „They hang on by the skin of their teeth.“ Doch gleichzeitig und, wie mir scheint, immer stärker wird die große europäische Hoffnung bedrängt und verdrängt durch die Alternativwährung nationalistischer Versprechungen. Ich fürchte, in Brüssel fehlt weitgehend das Verständnis dafür, wie tief dieses Gift schon eingesickert und wie weit es schon verbreitet ist. Ein Beispiel für die verfahrene Situation ist der aktuelle Konflikt zwischen Nordmazedonien und Bulgarien. Bulgarien hatte vor wenigen Jahren noch eine positive, stabilisierende Rolle gespielt auf dem Weg zu dem säkularen Prespa-Abkommen, mit dem Ministerpräsident Zaev zusammen mit dem damaligen griechischen sozialistischen Ministerpräsident Tsipras, die Tür zur EU aufzustoßen glaubte. Das Bild hat sich völlig gewandelt. Heute blockiert Bulgarien und dies unter den unglaublichsten Vorwänden. Man will vermeintliche historische Rechnungen beglichen sehen, bevor man erlaubt, dass die gemeinsame Zukunft auf die Agenda kommt. Ist nicht vielleicht die mazedonische Sprache doch nur ein Dialekt des Bulgarischen? Haben nicht führende Intellektuelle Nordmazedoniens früher selber erklärt, sie fühlten sich als Bulgaren? Werden nicht die Nordmazedonen, die unbedingt bulgarisch sein und bleiben wollen, böswillig unterdrückt? Muss nicht die Regierung in Skopje erst unter der aus nationalistischer Verhetzung immer tiefer gehängten bulgarischen Hürde unten durchkriechen, bevor das Licht am Ende des Tunnels wieder angeknipst wird. In Nordmazedonien, wo die Wunden von Prespa noch nicht verheilt sind, ist all das natürlich Futter für die rabiate chauvinistische Rechte, die wenn sich nicht bald etwas nach vorne bewegt, keine schlechten Chancen hat, gestützt auf eigene Hetze, dann wieder eine Mehrheit zu gewinnen. Das besonders Perverse an der Situation ist, dass die führenden nationalistischen Parteien auf beiden Seiten in Bulgarien wie in Nordmazedonien, GERB und VMRO/DPMNE, beide Mitglieder sind der Europäischen Volksparteien. Sie reden aber nicht mehr miteinander. Sie präsentieren sich als Wertepartner der konservativ-christdemokratischen Parteienfamilie, aber denken nicht im Geringsten daran, irgendeine Gemeinsamkeit auch nur zu suchen, und die führenden Vertreter der EVP zucken, wenn man sie darauf anspricht, mit den Schultern. Sie könnten leider nichts machen. Und auch aus Deutschland von der CDU/CSU sind mir keine Initiativen bekannt, um diese Blockade zu durchbrechen. Ein anderes Beispiel ist die Entwicklung in Bosnien und Herzegowina. Mehrere non-papers zur möglichen Zukunft des Landes wurden vor Kurzem gestreut, ohne dass irgendjemand sich als Autor oder Autorin zu erkennen gegeben hätte. Gemeinsam war diesen Papieren, dass sie ethnische Narrative über den demokratischen Rahmen erhoben. Einige der Stimmen, die da laut wurden, gingen sogar so weit, eine Neuaufteilung des Westbalkans entlang ethnischer Grenzen zu fordern. Im Extremfall hieße das eine Neuvermessung der Landkarte zu Gunsten Bulgariens, Serbiens und Kroatiens. Bosnien und Herzegowina, Nordmazedonien, Kosovo und wahrscheinlich auch Montenegro würden verschwinden. Das dies ohne großes Blutvergießen abginge, ist unvorstellbar. Leider erstreckt sich die Reichweite der nationalistischen Haltungen verschiedener Balkanakteure inzwischen bis hinein in europäische Institutionen. Mit Blick auf Bosnien und Herzegowina gibt es solche Stimmen im Rat; dazu ist der slowenische Ministerpräsident zu zählen, der im nächsten Halbjahr die europäische Ratspräsidentschaft übernimmt! Es gibt sie auch im Europäischen Parlament, gerade von konservativen kroatischen Nationalisten aus der EVP. Und wo „wächst das Rettende auch“? Ich sehe nur wenig davon. Die neue Regierung in Kosovo setzt positive Akzente und kann damit hoffentlich in die Region ausstrahlen. Die Biden Administration fängt wieder an, wenn ich mich da nicht täusche, sich für die Hinterlassenschaft von Dayton und die Zukunft von Bosnien zu interessieren. Die europäische Kommission hat immerhin versprochen, mit einem größeren Investitionsprogramm der Region unter die Arme zu greifen. Aber insgesamt bleibt selbst das Positive Stückwerk. Das liegt meines Erachtens vor allem daran, dass der Mut fehlt zu einem großen Wurf. Großer Wurf, das hieße, allen sechs Ländern der Region einen schnellen Beitritt zur EU in Aussicht zu stellen, wenn sie denn die Mühen der Transformation, die dafür erforderlich ist, tatsächlich energisch auf sich nehmen. Aber da steht überall die jeweilige Innenpolitik im Weg. In Frankreich fürchtet Macron, es könnte Le Pen nutzen, wenn er auch nur in den Verdacht geriete, so etwas nicht auszuschließen. In Deutschland ist es wahrscheinlich die unausgesprochene Furcht vor einem neuen Thema für die AfD, die der Fantasie Grenzen setzt. Haben wir nicht schon zu viele Schwierigkeiten in der EU? Brauchen wir die zerstrittenen Balkanvölker wirklich auch noch? Ich glaube, dass Unentschiedenheit und Zögerlichkeit in dieser Frage ganz gefährliche Gegner sind. Denn nicht nur der Übergang von europäischer Hoffnung auf nationalistische Gärung ist zu beobachten, sondern auch die wachsende Infiltration und Einmischung dritter Kräfte, die dort ihre eigenen strategischen Interessen vertreten, sei es Russland, China oder die Türkei. Aus parochialer Hasenherzigkeit und geostrategischer Kurzsichtigkeit hat sich eine Situation ergeben, in der die EU weder klar ja noch klar nein sagt, sondern die Region letztlich als einen Fußball behandelt, den man halt ohne klares Ziel die Straße entlang kickt. Was bräuchte es, damit sich die Lage wirklich ändern kann? Es bräuchte einen Handlungskern, um den sich die positiven Kräfte versammeln können. Wohlgemerkt, die Brüsseler Institutionen oder nur die Regierung eines einzelnen noch so mächtigen EU Mitgliedslandes, bringen alleine nicht genug Dynamik zu Stande. Es bräuchte eine europäische Koalition der Freunde des Balkans. Ich glaube, es wäre ein wichtiges Ziel für die Außenpolitik Deutschlands nach der Bundestagswahl, an der Schaffung einer solchen Koalition aktiv mitzuwirken. Oder wir warten halt, bis die Früchte unserer Versäumnisse dort unsere eigene Zukunft vergiften, denn dass Europa nicht um seine eigene Stabilität fürchten müsste, wenn es uns nicht gelingt, dem Westbalkan eine stabile Zukunft zu ermöglichen, das soll niemand glauben. |
Sonst noch
- An diesem Wochenende findet der Parteitag der Europäischen Grünen (EGP) statt! Ihr könnt einen Großteil des Programms online verfolgen. Zum Programm. Am Freitag wird es unter anderem eine Keynote Session mit Annalena Baerbock geben.
- Informeller EU-Gipfel stand unter dem bösen Stern der Minsker Luftpiraterie: EU reagierte ungewöhnlich schnell. Mein SWR2-Interview.
- Mein Interview mit GEGENBLENDE (Debattenmagazin des DGB) zu China-Handel, Investitionsabkommen, Zwangsarbeit und Sanktionen.
- Am 03. Juni organisiere ich ein Webinar mit Sergey Lagodinsky zum Thema “Israel: After missiles and bombs – what now?”. Weitere Infos folgen.
- Am 04. Juni jährt sich der Tian’anmen Gedenktag zum 32. Mal. An dem Tag plane ich eine Gedenkaktion: Ich rufe alle auf an dem Tag einen Tweet oder Post abzusetzen mit einer Kerze und einem Hinweis auf Tian’anmen.
- Als Vorsitzender der China-Delegation des Europäischen Parlaments habe ich ein Onlinetreffen organisiert mit Kolleginnen und Kollegen des Europäischen Parlaments, sowie der Parlamente von Belgien, Niederlande, Litauen, Kanada und Großbritannien, die alle von China wegen ihres Einsatzes für Menschenrechte sanktioniert worden sind. Wir haben verabredet, die Kooperation voranzutreiben und uns in unserer Arbeit gegenseitig zu stärken.