#181 Schlimmer als Corona: die Pest des Nationalismus | BÜTIS WOCHE

Es kommt nicht oft vor, dass die EU ziemlich unzeremoniell aufgrund von Erpressung einen nach den Regeln der europäischen Kunst beschlossenen und rechtlich wie inhaltlich gut begründeten Standpunkt – fallen lässt. Es ist aber schon vorgekommen.

Warum ich das schreibe? Weil, wie ich vermute, in etlichen Hauptstädten der EU derzeit ernsthaft darüber nachgedacht wird, ob nicht möglicherweise ein solcher würdeloser Rückzug unter Druck den einzigen Ausweg bieten könnte im dramatisch zugespitzten Kampf um die Durchsetzung des im Europäischen Vertrag als gemeinsamer Grundwert definierten Rechtsstaatsprinzips zwischen der EU-Mehrheit auf der einen sowie Ungarn und Polen auf der anderen Seite. Ungarns Orbán und Polens Kaczyński haben gerade auf Botschafterebene eine politische Atombombe gezündet, indem sie zur Bekräftigung ihrer Weigerung, dieses Prinzip in ihrem Regierungshandeln verbindlich anzuerkennen, ihr Veto einlegten gegen die siebenjährige finanzielle Vorausschau der EU sowie den Corona-Rettungsplan. Da diese Entscheidungen Einstimmigkeit im Rat zur Voraussetzung haben, liegt nun dieses Gesamtpaket, dem vor Kurzem noch das Europäische Parlament mit außerordentlich großer Mehrheit zustimmte, erst einmal auf Eis. Ändert sich nicht schnell etwas daran, dann sind die Hunderte Milliarden Corona-Krisen-Rettungs-Euros ganz blockiert und ab dem 1. Januar kann nur ein den Status quo festschreibender Schrumpfhaushalt implementiert werden.

Von einer „schweren politischen Krise“ schreiben die Kommentatoren. Das hat die Chance, zum Understatement des Jahres gekürt zu werden.

Wenn ich versuche, mich daran zu erinnern, in welchen Fällen die EU in der Vergangenheit keine andere Chance sah, als einfach einzuknicken, dann kam der Druck, dem sie sich schließlich ergab, immer von außen. So etwa im Fall der von der EU beschlossenen und vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) gebilligten Einbeziehung des Flugverkehrs in das Emissionshandelssystem in der Wahlperiode von 2009 bis 2014. Damals fand sich eine gegenüber den guten energie- und klimapolitischen Argumenten völlig unzugängliche Koalition zwischen den U.S.A., Russland, Indien, China und anderen gewichtigen Akteuren zusammen, die die EU in die Knie zwangen. Viel Gesichtswahrung gab es nicht, man redete einfach nicht mehr so viel darüber. Ein zweiter Fall liegt kürzer zurück und hat mit Präsident Trumps vermaledeiter Wende in der Iran-Politik der U.S.A. zu tun. Gegen den Willen der EU, insbesondere Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens, sowie Russlands und Chinas ging Trump auf einen Kurs der Totalkonfrontation. Und er zwang die Europäer, ob wir wollten oder nicht, mit dem Mittel von Sekundärsanktionen dazu, von Geschäften mit dem Iran abzulassen. Um die Blöße der politischen Hilflosigkeit notdürftig zu bedecken, einigten sich einige europäische Länder darauf, ein ganz besonderes Handelsinstrument zu schaffen, INSTEX genannt, das helfen sollte, die U.S.-Blockade zu umgehen. Tatsächlich hat es bisher ein einziges Geschäft gegeben. INSTEX funktioniert nicht. Wir Europäer reagieren darauf, indem wir weiter unsere guten Absichten betonen und gegen jede Plausibilität darauf hoffen, das könnte möglicherweise dem Iran genügen. Ja, es hat also solche brutalen Momente gegeben, in denen die EU de facto kapitulieren musste, aber auf der anderen Seite des Hebels saß immer wenigstens eine Supermacht.

Nun jedoch erweisen sich Polen und Ungarn als unüberwindliche Hürde, an der sich der Rest der EU eine entscheidende Niederlage einzuhandeln droht. Das ist so neu. Es gab zwar mehrere Fälle, in denen verlorene Referenden in einzelnen Mitgliedsländern, Frankreich, Niederlande, Irland, zunächst die erforderliche Einstimmigkeit bei der Weiterentwicklung unserer Union blockierten. Aber in all jenen Fällen fand sich schließlich nach einigem Warten ein Weg der Verständigung, der die ins Schloss geworfene Tür wieder aufmachte. Dies war möglich, weil die EU gewisse, kleinere Zugeständnisse machte und die jeweils betroffene nationale Regierung grundsätzlich konstruktiv und willens war, einen Ausweg nach vorne mitzugestalten. Im vorliegenden Fall nun allerdings reagieren Polen und Ungarn auf Zugeständnisse, die ihnen die Mehrheit durch eine erhebliche Abschwächung der Reichweite des Rechtsstaatsprinzips schon gemacht hatte, mit einem herrischen „Wir-wollen-gar-nix-davon-wissen“. Sie wissen, dass die EU aktuell die Zeit nicht hat, um die Widersprüche durch die Konsensmaschine klein mahlen zu lassen. Und sie verweigern den Kompromiss grundsätzlich.

Es war, wenn ich mich recht erinnere, der damalige Haushaltskommissar Günther Oettinger, der als erster führender europäischer Politiker öffentlich die Idee vertrat, man werde in Zukunft die Auszahlung von Haushaltsmitteln aus den Kassen der EU an die Mitgliedsländer daran binden müssen, dass letztere auch rechtsstaatliche Prinzipien einhalten. Ich habe mich damals, als Oettinger anfing, für seine Idee zu werben, mehrfach öffentlich skeptisch geäußert. Dies nicht deswegen, weil mir Oettingers Motiv dem Grunde nach unsympathisch gewesen wäre, sondern weil ich nicht überzeugt war, dass es richtig sei, den Haushalt und die Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit in dieser Weise zu verknüpfen, und weil ich daran zweifelte, dass sich dieses gegen das Veto auch nur eines der durch diese Regelung adressierten Länder durchsetzen ließe. Angesichts der Rücksichtslosigkeit, mit der Orbán in Ungarn seine korrupte Macht autoritär befestigte und mit der Kaczyński in Polen systematisch die Unabhängigkeit der Justiz untergraben ließ, gewann Oettingers Idee Schritt für Schritt immer mehr Freunde. Man konnte schließlich die Angriffe auf das Rechtsstaatsprinzip wegen ihrer Offenkundigkeit nicht weiter beschweigen und man sah keinen anderen wirksamen Hebel. Also entschlossen sich das Europäische Parlament, die Europäische Kommission und schließlich auch der Rat dazu, Ländern, die sich gegen das Rechtsstaatsprinzip vergehen, über deren Geldbeutel klarzumachen, dass die EU das nicht tolerieren werde. Nach dem Sommer fasste der Europäische Rat unter deutscher Präsidentschaft im Zusammenhang des Haushaltsgesamtpaketes von etwa 1,8 Billionen Euro einschließlich Rettungsfonds einen entsprechenden Beschluss, den die meisten im Europaparlament umgehend als schwer akzeptable Schrumpfvariante eines wirklich durchgreifenden Rechtsstaatsmechanismus kritisierten. Der deutsche EU-Botschafter Clauß verhandelte dann für den Rat mit dem Parlament eine Kompromisslösung. Diese sah, grob gesagt, nur noch vor, dass Haushaltsmittel blockiert werden könnten, wenn die Rechtsstaatlichkeit mit Blick auf die Verwendung dieser Mittel nicht gewährleistet wäre. Allerdings wurde eine Formulierung gefunden, die erlaubt hätte, auch die Unterminierung gerichtlicher Unabhängigkeit als Auslöser für Haushaltssanktionen zu verstehen. Im Europäischen Parlament wurde dieses Ergebnis als Durchbruch gefeiert. Ich äußerte mich öffentlich dazu nicht, aber hoffte inständig, dass wir da richtig pokerten. Auf die Frage, was geschehen könnte, sollte/n Orbán und/oder Kaczyński ein Veto einlegen, kam oft die Antwort, das würden die Herrschaften wohl eher nicht tun, weil ihre Länder schließlich von europäischen Haushaltsmitteln in besonderer Weise profitieren. Nun haben sie es aber getan.

Wie kann die EU diese Krise lösen? Ich weiß es nicht. Sie kann natürlich, die Befürchtung habe ich ja schon formuliert, einfach einknicken. So etwa nach Loriot: „Nehmen Sie diese Beleidigung sofort zurück?“ „Nein.“ „Dann ist für mich die Sache abgetan.“ Ich will nicht ausschließen, dass in einzelnen Ländern diese Nichtlösung des Problems bevorzugt würde. Schließlich hatten, wie zu hören war, mehr Länder als nur Polen und Ungarn, die Sprache war von bis zu zehn Ländern, intern erhebliche Vorbehalte gegenüber der von Rat und Parlament gewählten Vorgehensweise. Die meisten davon konnten bei der Stange gehalten werden, aber wie sie sich jetzt aufstellen, ist unklar. Für den inneren Zusammenhalt und die Legitimität der EU wäre das ein katastrophales Resultat.

Oder die EU kann, da das Veto bisher ja nur auf Botschafterebene eingelegt worden war, in Verhandlungen auf Ministerebene oder auf Ebene der Staats- und Regierungschefs noch einen neuen Ansatz verhandeln. Das müsste schnell gehen. Denkbar wäre z. B., dass man das Radio Eriwan-Prinzip anwendete. Radio Eriwan war Gegenstand zahlloser Witze in sowjetischer Zeit, in denen der Sender jede ihm gestellte Frage mit der Formel beantwortete: „Im Prinzip ja, aber…“ Man könnte also sagen, der Rechtsstaatsmechanismus bleibt wie verhandelt, aber seine Anwendung wird an zusätzliche Voraussetzungen geknüpft, z. B. indem der Europäische Rat, in dem laut Vertrag einstimmig entschieden wird, grünes Licht geben muss. Dann hätten wir ein wunderbares Rechtsstaatsprinzip, das faktisch nie zur Anwendung kommt. Wunderbarer Selbstbetrug!

Oder, auch darüber wird offenbar nachgedacht, die 25 versuchen, die ungarisch-polnische Blockade zu umgehen, indem sie sich intergouvernemental verabreden. Dann wären die beiden Störenfriede ihres Vetos beraubt. Aber das Europäische Parlament wäre auch aus dem Spiel. Denn bei intergouvernementalen Abreden haben wir als Parlament nichts zu sagen. Ob entsprechende Verabredungen auf diesem Weg überhaupt wirksam und mit ausreichender Weite getroffen werden könnten und ob dann nicht andere Länder der Verlockung zuneigen könnten, nun ihrerseits erpresserische Forderungen auf den Tisch zu legen, weiß keiner. Aber es ist klar, dass damit der unitarische Kern der Europäischen Union, die gemeinsame Vertretung der europäischen Bürgerinnen und Bürger durch das Europäische Parlament, ausgehebelt wäre. Wir wären dann faktisch beim Europa der Vaterländer gelandet, das zuletzt eine Parole der AfD war. Das wäre noch schlimmer als alles andere.

Oder einige der besonders gewichtigen Hauptstädte, man denkt sofort an Paris und Berlin, könnten sich entscheiden, hinter den Kulissen ohne Öffentlichkeit im bilateralen Verhältnis massive Daumenschrauben anzulegen. Ich denke dabei an die Geschichte, die mir vor Jahren ein ehemaliger israelischer Botschafter erzählte. Washington und Tel Aviv hatten sich in einem Streit um den Nahost-Friedensprozess monatelang nicht einigen können, doch plötzlich gab dann Israel seine Blockade auf und folgte den U.S.-Wünschen. Jahre danach habe er, sagte mir der Botschafter, Henry Kissinger gefragt, wie das denn gekommen sei. „Ja, ich erinnere mich genau“, habe Kissinger gesagt. „Es war sogar noch schlimmer damals, als öffentlich bekannt wurde. Wir hatten damals de facto zwei dramatische Krisen gleichzeitig. Einerseits verhielt sich Tel Aviv bockbeinig bei unserem Versuch, dem Friedensprozess einen neuen Impuls zu geben. Gleichzeitig aber hatten wir plötzlich noch nie dagewesene und unerklärliche Probleme bei der Produktion des Nachschubs für die israelische Luftwaffe. Es war uns unendlich peinlich und wir konnten wochenlang das Problem nicht abstellen. Doch dann, ich weiß heute noch nicht wie, lösten sich beide Problem wie von Zauberhand gleichzeitig.“ Nüchtern gesagt sind allerdings Polen und Ungarn von Deutschland oder Frankreich nicht so abhängig wie Israel von den U.S.A. Und zudem würde eine solche Vorgehensweise, die im Zeitalter der elektronischen Medien kaum verborgen bleiben könnte, die Beziehungen zwischen den Hauptstädten zusätzlich dauerhaft vergiften.

Oder könnte man vielleicht zu dem Schmiermittel greifen, das in der EU schon viele Konflikte überwindbar machte, und den Orbáns und Kaczyńskis ihr Veto schlicht abkaufen? Das wäre elegant, wenn es klappte, aber ich zweifle daran. Denn auch die zusätzlich versprochenen Mittel unterlägen ja anschließend dem Rechtsstaatsprinzip. Das Damoklesschwert bliebe. Zudem glaube ich, dass es diesen autoritären Zeitgenossen in der Auseinandersetzung wirklich ums Prinzip geht. Der polnische Justizminister Ziobro hat öffentlich formuliert, man kämpfe, um die Versklavung Polens zu verhindern. Nun ist Ziobro für dortige Verhältnisse ein Rechtsausleger, aber ich fürchte, er hat die Entschlossenheit der Regierung in Warschau, sich nicht wieder unter das Joch der von der polnischen Rechten als fremd empfundenen „Brüsseler Werte“ zwingen zu lassen, nur besonders drastisch artikuliert.

Es ist oft gesagt worden, die EU und ihre Mitgliedstaaten hätten die Ausbreitung der Seuche des Nationalismus viel zu lange einfach geschehen lassen. Das ist wohl wahr. Inzwischen ist der Nationalismus keine europäische Randerscheinung mehr, sondern er sitzt mitten im Mainstream. Und wenn man genau hinschaut, findet man ihn auch nicht nur in Warschau und Budapest. Man findet ihn in Wien, wenn dort auch nur der Ansatz einer vernünftigen gemeinsamen Flüchtlingspolitik rücksichtslos blockiert wird. Man findet ihn in Den Haag, wenn die niederländische Regierung eigensinnige Knauserigkeit zum Prinzip im Umgang mit der Corona-Pandemie und ihren weitreichenden ökonomischen Risiken erhebt. Man findet ihn in Berlin, wenn gegen jede energiepolitische, klimapolitische und bündnispolitische Vernunft Nord Stream 2 unbedingt durchgeboxt werden muss, allenfalls garniert mit dem Zugeständnis, das sei vielleicht tatsächlich ein zweifelhaftes Projekt, aber nun habe man sich eben dafür entschieden und lasse sich nichts mehr sagen. Man findet ihn in Bulgarien, wo die Regierung die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien blockiert, weil sie erst erzwingen will, dass die Nordmazedonen aufhören, ihre eigene Sprache als Mazedonisch zu bezeichnen; die sei ja schließlich nur ein bulgarischer Dialekt. Man findet ihn in Zypern, wo die Inselgriechen den letzten Versuch zur Wiedervereinigung verweigerten. Man findet ihn in Griechenland, wo die Regierung, zumeist unter europäischem Beifall, gegenüber der Türkei des Autokraten Erdoğan maximalistische Positionen in der Auseinandersetzung um die fossilen Rohstoffe unter dem gemeinsamen Meer vertritt. Die Liste ließe sich leicht verlängern.

Vielleicht zaubern Ursula von der Leyen, Angela Merkel und Charles Michel, wenn sie sich nun zusammensetzen, um einen Ausweg zu finden, ja ein weißes Kaninchen aus dem Zylinder. Ich würde es mir sehr wünschen. Das wäre ganz gewiss eine außerordentlich preiswürdige Leistung. Aber vielleicht sind wir auch in einer Situation, in der wir nur zwischen schlechten Wegen wählen können und dann den aussuchen müssen, der vielleicht etwas geringere Schäden hinterlässt als die anderen. Ich halte das für eine sehr sehr tiefe Krise.


 

Sonst noch
  • Gemeinsam mit den weiteren Vorsitzenden der informellen „Hong Kong Watch Group“ des Europäischen Parlaments verurteile ich den Ausschluss von vier Mitgliedern des demokratischen Lagers aus dem LegCo.
  • In Asien entsteht durch RCEP eine neue Freihandelszone. Was bedeutet das für die EU? Meine Pressemitteilung.
  • Am 18.11. veranstalte ich gemeinsam mit der Thüringer bündnisgrünen Landtagsfraktion in der Zeit von 18:30 bis 20:00 Uhr das dritte Europäische Gespräch, dieses Mal mit dem Titel: „Handel, Investitionen, Menschenrechte: Was wir von China für Thüringen erwarten“. Die Veranstaltung findet als Online-Diskussion statt. Weitere Informationen findet Ihr hier. Eine Anmeldung ist erforderlich.
  • Vom 20. bis 22.11. findet die digitale Bundesdelegiertenkonferenz zum Grundsatzprogramm statt. Weitere Informationen gibt es hier.
  • In der nächsten Woche tagt das Europäische Parlament, hier die regelmäßig aktualisierte Tagesordnung.
  • Ab dem 01. Januar 2021 suche ich für mein Team in Brüssel eine*n parlamentarische*n Assistent*in mit dem Schwerpunkt europäische Chinapolitik. Hier die Stellenausschreibung. Ich freue mich auf Eure Bewerbungen bis zum 23.11.