Aktuell dominiert die COVID-19-Krise die europäische Politik fast vollständig. Andere große Herausforderungen rutschen auf der Agenda erstmal nach unten. Doch, was weniger Aufmerksamkeit genießt, schrumpft damit keinesfalls in seiner Bedeutung. Das gilt auch für die zwei großen europäischen Gestaltungsaufgaben, die noch zu Beginn dieses Jahres groß im Zentrum standen:
Zum einen die Handelspolitik vor dem Hintergrund einer fundamentalen Krise der multilateralen Ordnung des Welthandels und angesichts von trumpschen Handelskriegen.
Zum anderen die Klimakrise, deren Erscheinungen inzwischen allgegenwärtig sind und deren Bekämpfung aufzuschieben die letzten Chancen verspielen könnte, der dramatischen globalen Erwärmung noch Einhalt zu gebieten.
Umso mehr gilt es, dass die EU sich konzeptionell für die „Zeit danach“ vorbereitet, wenn diese Themen zwangsläufig wieder nach vorne rücken werden. In diesem Sinne gilt unser Plädoyer einer Verknüpfung von Klima- und Handelspolitik. Das Europaparlament hat im November 2019 den Klimanotstand ausgerufen. Es machte damit deutlich: Wenn die EU die Pariser Klimaziele nicht verfehlen will, müssen wir wesentlich mehr tun, um die Emissionen zu senken.
Alle relevanten Gesetzes- und Haushaltsvorhaben müssen mit dem Ziel übereinstimmen, die Erderwärmung auf unter +2 Grad Celsius zu begrenzen, möglichst sogar auf +1,5 Grad Celsius. Die große Klimabewegung in der europäischen Jugend und eine gewisse grüne Welle bei zahlreichen Wahlen, insbesondere bei der Europawahl 2019, haben dazu beigetragen, dass die EU-Kommission den Kampf gegen die Klimakrise endlich zu einer Top-Priorität gemacht hat. Mit dem Europäischen Green Deal, den Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit John F. Kennedys ambitionierten Mondfahrtprogramm vor 60 Jahren vergleicht, soll der Kontinent bis 2050 CO2-neutral werden. Damit formuliert der Green Deal das bisher anspruchsvollste Klima- und Umweltvorhaben der EU.
Nicht erst seit dem Green Deal setzen Akteure überall in der EU auf Klimaschutz. Wir befinden uns bereits auf dem Weg zu einer emissionsfreien Gesellschaft. Auch in der Wirtschaft. Viele Unternehmen ziehen ihre Investitionen aus fossilen Energien ab. Weitblickende Investoren machen die CO2-Bilanzen industrieller Vorhaben zu mitausschlaggebenden Entscheidungskriterien. In Deutschland wurden durch die Energiewende eine sechsstellige Zahl von Jobs geschaffen, auch wenn durch Politikfehler in Berlin die Windbranche und die Solarbranche gegenwärtig vor erheblichen Problemen stehen. CO2-freier Stahl ist längst keine Utopie mehr, sondern erklärtes Ziel der europäischen Stahlbranche bis 2030. Und verschiedene Unternehmen, auch in Deutschland, sind dabei dies umzusetzen. Auf alle diese Entwicklungen kann sich die EU-Kommission stützen, in dem sie mit dem Green Deal ein Aktionsplan vorlegt, der fast alle Sektoren umfasst.
Merkwürdigerweise hat die Handelspolitik von der EU-Kommission bei ihrem umfassenden Greening weitgehend außen vorgelassen, wenn man einmal von dem vagen Versprechen eines CO2-Grenzausgleichs (Climate Border Adjustment Mechanismus) absieht. Ist denn EU-Handelspolitik schon so grün, dass sie da zur Seite stehen kann? Tatsächlich wirkt die EU-Handelspolitik wie ein Dinosaurier, der aus Zeiten lange vor Pariser Klimaabkommen und Green Deal stammt. Daraus drohen fatale Konsequenzen. Es leuchtet nicht ein, dass wir alles tun, um innerhalb der EU den Klimawandel zu bekämpfen, und gleichzeitig in aktuellen Handelsverträgen der EU darauf abzielen, immer neue Absatzmärkte für SUVs zu erschließen. Es ist ein Anstieg der Emissionen zu befürchten, wenn die EU ein Abkommen mit den Mercosur-Staaten vorantreibt, das zur Abholzung des Amazonas beitragen wird. Und was nutzt es dem Klima, wenn wir im Rahmen eines angestrebten Handelsabkommens mit Neuseeland mehr Butter von dort einmal um den Globus schicken, wo wir doch hier in Europa nicht wirklich unter Butterarmut leiden. Insgesamt gibt es derzeit kaum verlässliche Abschätzungen der Folgen von Handelsabkommen auf die CO2-Emissionen und kein CO2-Monitoring für deren Vollzug.
Aus der EU-Kommission wird gegen solche Kritik regelmäßig darauf verwiesen in den Nachhaltigkeitskapiteln unserer Handelsabkommen werde das Pariser Klimaabkommen ja erwähnt; dass sei durchaus ausreichend. Wer die Nachhaltigkeitskapitel liest, muss allerdings feststellen, dass das nicht stimmt. Die Nachhaltigkeitskapitel sind zahnlose Tiger. Eine förmliche Erwähnung der Pariser Klimaziele senkt noch keine Emissionen.
Wir fordern: In eine Handelspolitik muss systematisch eine europäische Null-Emissionsstrategie eingebaut werden. Das böte der europäischen Wirtschaft Rückendeckung bei ihren Transformationsanstrengungen und Geleitschutz für die erfolgreiche Verbindung von Nachhaltigkeit und Wettbewerbsfähigkeit. Vor allem braucht es verbindliche Verpflichtungen in Handelsabkommen, die Emissionen zu reduzieren. Wir wollen dazu Instrumente festschreiben, wie sie beispielsweise im Mandat für das Abkommen mit dem Vereinigten Königreich vorgesehen sind. Wir können uns eine Notbremse vorstellen, ein Klimaveto, das es erlaubt, einseitig handelsrechtlich aktiv zu werden, wenn zugesagte Klimaziele verfehlt werden. Nachhaltigkeitskapitel müssen effektiv durchsetzbar sein. Handelsabkommen sollten den Handel mit nachhaltigen Produkten besonders fördern und diese grundsätzlich zollfrei stellen. Zudem sollen sie wirksam solche nicht-tarifären Handelshindernisse beseitigen, die der Nachhaltigkeit im Wege stehen. Dass das keine Ausrede für geschwächten Verbaucher*innenschutz sein kann, liegt auf der Hand.
Wie der von Ursula von der Leyen in Aussicht gestellte CO2-Grenzausgleich konstruiert werden soll und mit dem europäischen Emissionshandelssystem verschränkt werden kann, steht noch dahin. Richtig ist ein solcher Ansatz jedoch, wenn er, wie versprochen, WTO-kompatibel umgesetzt wird. Außerdem sollte die EU zügig aus dem Energiecharta-Vertrag aussteigen, sollte der sich wie im Reformprozess vorgesehen bis Ende 2020 nicht als reformierbar erweisen. Denn auf Grundlage dieses Vertrags klagen fossile Investoren gegen die Energiewende in EU-Staaten auf Milliardenbeträge.
Wenn es Ursula von der Leyen und die Europäische Kommission mit dem Europäischen Green Deal ernst meint, dann sollten sie sich für eine echte Neuorientierung der Handelspolitik öffnen. Wir könnten uns vorstellen, dass die laufenden Verhandlungen mit Australien und Neuseeland, wo es auch ein hohes Klimabewusstsein gibt, dafür ein geeigneter Kandidat wären. Die Corona Krise zeigt zudem, wie abhängig wir sind von globalen Lieferketten. Das befeuert gerade überall in Europa Debatten darüber, ob wir nicht in manchen Bereichen wieder regionalere Wirtschaftsabläufe bräuchten, zuletzt forderten die niederländische und französische Regierung einen klimapolitischen Neustart der EU-Handelspolitik. Und auch EU-Handelskommissar Hogan hat eine Revision der europäischen Handelspolitik angekündigt. Die Corona-Krise wird also mit Sicherheit auch die Handelspolitik verändern.
Dieser Gastbeitrag gemeinsam mit meiner Kollegin Anna Cavazzini erschien zuerst bei der Heinrich-Böll-Stiftung