#165 9. Mai ist Europatag: Was heißt das? | BÜTIS WOCHE

Am 9. Mai ist der Europatag. Der Europatag 2020 ist ein besonderer, denn dieses Jahr jährt sich zum 70. Mal die berühmte Schuman-Erklärung, die der europäischen Einigung bis hin zur heutigen EU der 27 den entscheidenden Impuls gab. In Erinnerung an diese Schuman-Erklärung feiern wir den Europatag.

Robert Schuman war damals französischer Außenminister. Er schlug für die französische Regierung vor, „die Gesamtheit der französisch-deutschen Kohle-und-Stahlproduktion einer gemeinsam Hohen Behörde zu unterstellen, in einer Organisation, die den anderen europäischen Ländern zum Beitritt offensteht.“ Das war der Anstoß zur Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), aus der später die Europäische Gemeinschaft und schließlich die Europäische Union erwuchs. Die Motivation des Schuman-Plans war friedenspolitisch. Durch die Vergemeinschaftung der beiden für die Kriegführung entscheidenden Industriebereiche sollte materiell unmöglich gemacht werden, dass die beteiligten europäischen Länder jemals wieder gegeneinander zu Felde ziehen könnten. Daran erinnert, wer sagt, die europäische Integration sei ein Friedensprojekt.

Viele Jahre wuchs die europäische Integration Schritt für Schritt, aber nur im Westen des Kontinents. Erst der Untergang der Sowjetunion vor etwas mehr als 28 Jahren ermöglichte es, das Projekt der europäischen Einheit für alle Länder Europas zu öffnen. 13 Jahre später, am 1. Mai 2004, konnten dann Estland, Lettland, Litauen, Polen, die Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn der EU beitreten, neben Zypern und Malta. Seither sind noch Bulgarien, Rumänien und Kroatien gefolgt. Grundsätzlich steht die EU jedem europäischen Land, das dies will und das die Kriterien erfüllt, zur Mitgliedschaft offen. Die Schweiz, Norwegen und Island haben es mehrfach erwogen und sich jeweils dagegen entschieden. Großbritannien ist das einzige Land, das die EU wieder verließ. Die sechs Länder des westlichen Balkans hoffen, dereinst Mitglied in der EU werden zu können. Vier davon haben Kandidatenstatus: Serbien, Montenegro, Nordmazedonien und Albanien. Kandidatenstatus hat formal auch die Türkei, aber die Perspektive türkischer Politik hat sich so weitgehend gewandelt, dass man daran zweifeln muss, dass dem eine reale Perspektive entspricht. Kandidatenstatus hätte gerne die Ukraine gewonnen, doch die EU hat bisher, ohne das formell auszuschließen, dem Land keine entsprechenden Hoffnungen gemacht. Tatsächlich ist es schwer vorstellbar, dass die Ukraine EU-Mitglied werden könnte, solange der östliche Teil ihres Territoriums zu einem revanchistischen Russland tendiert, das die EU als räuberischen Fuchs in seinem eigenen Hinterhof betrachtet. Dass Russland selbst EU-Mitglied werden könnte, das war in den 90er Jahren ein beliebtes Gedankenspiel im Washingtoner State Department, hatte aber nie irgendeine Realität.

Interessant ist, wie sich in den letzten Jahren im öffentlichen Diskurs die Begründung entwickelt hat für die europäische Integration. Jahrzehntelang basierte das Bekenntnis zur Union auf der Überzeugung, Europa müsse in der EU zusammenfinden, um die jahrhundertealte Geschichte europäischer Zerrissenheit, europäischer Kriege und insbesondere die Geschichte europäischer Nationalismen hinter sich zu lassen. Die europäische Integration hatte insoweit ein europäisches Ziel. Jüngeren Datums ist eine zweite Begründung, die sich aus Europas Blick auf eine sich dramatisch verändernde Welt ergibt. Europas Länder müssen sich zusammenschließen, weil keines von ihnen stark genug ist, auf eigene Faust seine Werte und Interessen gegenüber globalen Partnern und globalen Risiken wirksam zu vertreten. Weitsichtige sahen dies früh. So formulierte der erste Präsident des Europäischen Parlaments, Paul-Henri Spaak, einmal, es gebe nur zwei Sorten von Ländern in Europa: kleine Länder und solche, die noch nicht wüssten, dass sie klein sind. Heute ist das eine für niemand bestreitbare Tatsache. Insbesondere vor dem Hintergrund des sich dramatisch verschärfenden Hegemonialkonfliktes zwischen den USA und China, vor dem Hintergrund nur global zu bewältigender Menschheitsherausforderungen wie dem Klimawandel, vor dem Hintergrund der im globalen Verhältnis schrumpfenden Relevanz Europas – demnächst stellen wir Europäer alle zusammen noch fünf Prozent der Weltbevölkerung – ist die Einheit Europas Voraussetzung für Europas Selbstbestimmung, dafür, dass es in Europa demokratisch legitimierte Souveränität gegenüber autoritärer Großmachtpolitik und gegenüber gigantischen Wirtschaftskolossen überhaupt noch geben kann. Es gilt für Europas Nationen vergleichbar, was Benjamin Franklin den Mitgliedern des Continental Congress im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg sagte: „We must, indeed, all hang together or, most assuredly, we shall hang separately.“

Das erste Mal, dass diese Perspektive in der Grünen Familie im Zusammenhang thematisiert wurde, war 2011 durch eine Arbeitsgruppe bei der Heinrich-Böll-Stiftung, die einen Bericht publizierte unter dem Titel „Solidarität und Stärke“. Es lohnt sich sicher, das nach bald zehn Jahren noch einmal zu reflektieren.

Rückblickend würde ich sagen, dass die EU in diesen letzten zehn Jahren viele Schritte unternommen hat, um den inneren wie den äußeren Herausforderungen gerecht zu werden. Sie hat die große Wirtschaftskrise 2008/2009 unter großen Kosten und schweren Mühen schließlich hinter sich gelassen und einige neue Instrumente zur Stabilisierung geschaffen. Sie hat verhindert, dass der schwere Rückschlag des Brexits zum Spaltpilz für den Rest der Union wird, und sogar im sicherheitspolitischen Bereich zusätzliche Gemeinsamkeiten initiiert. Sie hat die großen Zerwürfnisse im Gefolge der Flüchtlingsbewegung seit 2015 zwar noch nicht überwunden, aber immerhin anerkannt, was zuvor für ausgeschlossen galt, dass nämlich auch Asyl- und Migrationspolitik europäisch koordiniert werden muss. Sie hat mit dem europäischen Green Deal die Frage der ökologischen Transformation unserer Wirtschaft und Gesellschaft zu einem zentralen Projekt erhoben. Sie hat sogar angefangen, in der Außenpolitik, zumal der gegenüber China, einen lange Zeit gar nicht beabsichtigten Grad der Koordinierung zu entwickeln. Nichts von all diesen Fortschritten fiel leicht. Nichts davon war brillant. Vieles geschah stolpernd, widersprüchlich und blieb bis jetzt Stückwerk. Ich glaube, das kann letztlich nicht anders sein bei einem historisch einmaligen politischen Unterfangen: dass eine große Zahl von souveränen Ländern sich dazu versteht, in friedlicher Weise und im Rahmen einer Mehrebenendemokratie die eigene Zukunft durch Integration zu gestalten. Wenn es wieder mal nicht richtig vorangeht, wenn es Gegenwind gibt, wenn nationale Vorbehalte vernünftigen europäischen Lösungen im Weg stehen, wie das so oft der Fall ist, kann man trotzdem nicht vergessen, dass es eine bessere Alternative zu dieser Sisyphos-Anstrengung nicht gibt. Ich glaube übrigens, dass bisher der Stein, den wir den Berg hochrollen, nicht immer wieder ganz hinunterrollt. Es ist quasi, um eine Leninsche Formel zu paraphrasieren, zwei Schritte vorwärts, anderthalb Schritte zurück.

Auf Deutschland kommt es bei diesem Ringen besonders an. Deutschland ist das mächtigste Land in der EU, das Land, ohne das wenig geht. Deutschland kommt gar nicht umhin, eine Führungsverantwortung in der EU wahrzunehmen. Nicht alleine, in Partnerschaft mit anderen. Aber diese Führungsverantwortung muss sich bewusst sein, dass es für Europas Fortschritt besonders hinderlich ist, wenn Deutschland, wie es bei Nord Stream 2 der Fall war oder in der EU-Finanzpolitik oder bei der EU-Wirtschaftspolitik oder bei der Bankenunion oder in der China-Politik, um nur einige prominente Beispiele zu nennen, seine eigenen Interessen über die Europas stellt. Wenn es Europa nicht gutgeht, kann es Deutschland auf Dauer nicht gutgehen. Deshalb ist die europäische Integration zentraler Bestandteil deutscher Staatsräson. Dafür müssen auch wir Grüne uns immer wieder starkmachen.

 


Sonst noch
  • Zu meiner letzten Bütis Woche gab es etwas Feedback, auf das ich den Einsendern jeweils individuell antworten werde.
  • Ich habe mit RND-Korrespondent Damir Fras über den chinesischen Umgang mit der Corona-Pandemie gesprochen. Hier könnt Ihr Euch das Gespräch anschauen.
  • In einer außerordentlichen digitalen Sitzung des Auswärtigen Ausschusses am 7.5 wird Kommissar Várhelyi über den EU-Westbalkan-Gipfel vom 6.5. berichten.
  • Am 13. und 14.5. tagt das Europäische Parlament. Wie die meisten Abgeordneten werde ich wieder digital teilnehmen und abstimmen. Sobald die Tagesordnung verfügbar ist, könnt Ihr sie hier abrufen.