Krisenzeiten sind Zeiten, in denen Gewissheiten erschüttert werden, in denen lange schwärende Fragen auf einmal mit Macht zur Entscheidung drängen, aber auch Zeiten, in denen Neues zum Durchbruch kommen kann. So eine Krisenzeit erleben wir gerade. Nun ist Europa Krisen gewohnt. Es ist nur ein teilweise ironischer Satz, zu sagen, dass Europa seinen Krisen viel verdankt, weil ohne diese der Ausbruch aus lange fruchtlosen Routinen oft nicht möglich gewesen wäre. Niemand wird behaupten, dass Europa nicht auch in den letzten Jahren reichlich und auf vielen Feldern mit Herausforderungen, Problemen und Krisen gesegnet gewesen wäre. Doch die Corona-Krise spitzt viel von dem, was uns schon eine ganze Weile begleitete, in einer Weise zu, dass sich daraus die Notwendigkeit wesentlicher Weichenstellungen ergibt.
Eine Schwäche, an der Europa schon viel zu lange laboriert, ist der Mangel an innereuropäischer Solidarität. Wir erlebten, bedauerten und bekämpften ihn im Gefolge der großen Wirtschaftskrise von 2008/2009. Doch die Entschlossenheit, mehr vorzunehmen als einige Reparaturarbeiten an der ökonomischen und sozialen Verfassung der EU, war bisher nicht stark genug, um einen großen Schritt nach vorne zu ermöglichen. Gemessen an dem Mut, mit dem etwa Helmut Kohl und Theo Waigel nach der deutschen Wiedervereinigung durch die Aufgabe der D-Mark zugunsten des Euro die Bundesrepublik ökonomisch in der EU festzurrten, sind die Bedenkenträgereien, mit denen im Bundestag und in der Bundesregierung die Fragen einer Vollendung der Bankenunion oder von Eurobonds oder von der Koordinierung der Haushaltspolitiken oder eines gemeinsamen Rückversicherungssystems für unsere Arbeitslosenversicherungen diskutiert wurden, kleinkariert. Wir haben zugelassen, dass sich innerhalb der EU zwei Lager gegeneinander formierten. Zum einen das südliche Lager unter der nicht besonders erfolgreichen Führung von Rom, das sich um das Verlangen nach mehr europäischer Solidarität organisierte und dabei durchaus auch gerne bereit war, eigene Versäumnisse der Gemeinschaft zur Last zu legen. Andererseits das nordwestliche Lager, angeführt von Deutschland und den Niederlanden, in dem die Bereitschaft groß war, die Vorteile, die man aus dem Binnenmarkt zog, ganz deterministisch-calvinistisch der eigenen Tugendhaftigkeit zugute zu schreiben, das Verlangen nach Solidarität als Ausdruck von Schwäche und Drückebergerei abzutun und ganz konsequent das eigene Verhalten und das der anderen mit verschiedenen Maßstäben zu messen.
Jetzt in der Corona-Krise verschärft sich die Auseinandersetzung um das Prinzip und das richtige Maß von Solidarität erneut. Schandbar waren die ersten Reflexe aus Frankreich und Deutschland gegenüber Italien, als dieses Land zum Epizentrum der Corona-Krise wurde. Anfang März verhängten beide „Partner“ Exportverbote für persönliche medizinische Schutzgüter gegen Italien und andere Bittsteller. Zynisch gesagt: Wir müssen vielleicht China für den schändlichen Versuch dankbar sein, diese Rücksichtslosigkeit mit seiner sogenannten Maskendiplomatie aggressiv für Spaltungsversuche auszunutzen. Denn das immerhin erreichte die Aufmerksamkeit im Élysée und im Kanzleramt. Man lieferte dann Masken nach und beteuerte ausdrücklich – so weit hatte es kommen müssen! –, dass diese Hilfeleistung dann doch größer sei als die chinesische Hilfe. Einzelne Bundesländer halfen, indem sie italienische Patienten aufnahmen, wofür die Verantwortlichen in Italien fast zu Helden erklärt wurden. (Auch die Hilfe gegenüber der schwer bedrängten französische Region Grand Est durch Anrainerregionen wie Baden-Württemberg zeigte übrigens, wie dankbar selbst begrenzte Zeichen von Solidarität aufgenommen werden.)
Doch die Solidaritätslektion wurde bis jetzt nicht wirklich gelernt. Im Kampf um die Finanzierung der wirtschaftlichen Abwehrschlacht der dramatischen Wirkungen der Corona-Krise finden sich die alten Lager wieder. Ich glaube, dass wir uns dieses Gerangel schlicht nicht leisten können. Die Verwerfungen und Verletzungen als Folge der dogmatischen Austeritätspolitik, mit der Berlin und Brüssel im Gefolge der Wirtschaftskrise Griechenland, Spanien, Italien und andere Länder gequält hatten, haben sich als ideales Futter für populistisch geschürte antieuropäische und antideutsche Bewegungen erwiesen. Das Seil, das uns zusammenhält, ist, fürchte ich, nicht stark genug für eine neuerliche solche Zerreißprobe. Viele Stimmen aus der Wissenschaft, der Politik und der Zivilgesellschaft sagen das dringlich. Es gibt dazu einen gemeinsamen deutsch-italienischen Appell. Es gibt eine Initiative unter Führung von Professor Habermas, die in der Zeit zu Wort kam. Es gibt eine Initiative von über 40 Parlamentariern aus vielen europäischen Ländern. Ihre gemeinsame Quintessenz hat der italienische Premierminister Conte in einem ARD-Interview treffend auf den Punkt gebracht, als er sagte: Wir schreiben gerade kein Ökonomie-Lehrbuch, sondern ein Geschichtsbuch. Sind die Mitgliedsländer der EU nicht bereit, ihren von der Krise besonders gebeutelten Mitgliedern solidarisch zur Seite zu stehen nach dem Motto #WeAreInThisTogether, sondern bestehen vielmehr darauf, bestenfalls Hilfe zur Selbsthilfe anzubieten, was die Botschaft enthält, dass letztlich doch jede Nation für sich selbst zu sorgen habe, dann bleibt vom Geist Europas substanziell nichts übrig. Ich scheue mich, zu sagen, wie einer meiner Twitter-Partner, dass die EU es dann nicht verdiene, erhalten zu werden. Aber ich verstehe, wie er dazu kommt. Und niemand kann eine Garantie geben, dass nicht im Gefolge der Krise, wenn wir nicht solidarisch handeln, ganz viele Menschen zu solchen politischen Kräften überlaufen, die das sogar für erstrebenswert halten. Wir dürfen es nicht noch einmal falsch machen.
Eine zweite Verwerfungslinie in der Europäischen Union ist seit langem die Front zwischen dem Kampf um mehr Demokratie einerseits und nationalistisch-autoritär-extremistischen Tendenzen andererseits. Es gibt genug Berichte darüber, dass aktuell in verschiedenen EU-Ländern die Covid-19-Krise genutzt wird, um demokratisch zweifelhafte Regelungen zu etablieren. Aber nirgends ist die Lage so dramatisch wie in Ungarn. In einem Beitrag für den Focus habe ich einige Gedanken dazu aufgeschrieben. Im Moment verweigern die EU-Institutionen und viele der anderen Mitgliedstaaten den Bürgerinnen und Bürgern Ungarns die Solidarität im Kampf um ihre demokratischen Rechte. Christdemokratische Parteien aus 13 europäischen Ländern haben immerhin protestiert und verlangt, eine klare Grenze zu ziehen gegen Orbán. Der Vorsitzende der EVP Donald Tusk will das auch. Aber von den führenden Köpfen der CDU/CSU hat sich bisher nur Norbert Röttgen zu einer klaren Stellungnahme aufraffen können. Auch hier lauert, und das ist keine Übertreibung, eine für die EU tödliche Gefahr. Das bedingungslose Festhalten an der Demokratie darf nicht zur Disposition gestellt werden, wenn die EU nicht ihre Grundwerte verraten und damit ihre Seele verlieren will.
Wie soll man bloß verstehen, dass die deutschen Konservativen da nicht aufschreien? Sie sind doch zu einem sehr hohen Prozentsatz aktive und begeisterte Europäer, anders als Orbán. Sie grenzen sich weit überwiegend nach wie vor gegen die Flirts nach rechtsaußen ab, für die Orbán steht. In der Vergangenheit haben sie argumentiert, man solle Orbán nicht völlig ausgrenzen, weil man dann Einfluss auf ihn behalte. Was bleibt von diesem Argument übrig, nachdem er sich nun auch formal zum Autokraten gemacht hat? Oh, dass die Kollegen aufwachen würden und merkten, wie nah wir auch in dieser Frage an die Grenze dessen geraten sind, was die EU aushält.
Und dann gibt es noch einen dritten Bereich, in dem man der EU-Politik leider attestieren muss, sie befinde sich in einem merkwürdigen „Sleepwalking“-Modus. Das ist die europäische Außenpolitik, die noch nie wirklich unsere starke Seite war, von der sehr erfolgreichen Tradition der EU-Erweiterungspolitik einmal abgesehen. Doch just in dem Moment, in dem es den Anschein hatte, mit der Bereitschaft, endlich Beitrittsgespräche mit Nordmazedonien und Albanien zu beginnen, sei die lange Zeit der rücksichtslosen Ignoranz gegenüber den sechs Nicht-EU-Staaten auf dem Westbalkan dabei, einer aktiveren, integrationsorientierten Perspektive zu weichen, reißt die EU das dann wieder ein, indem sie faktisch eine Exportblockade für medizinische Hilfsgüter gegen diese Länder verhängt und sie damit brutal vor den Kopf stößt. Der autoritär orientierte und demagogisch begabte Präsident Serbiens, Vučić, ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, das für eine bitter-theatralische Anti-EU-Propaganda auszuschlachten. Die Solidarität der EU sei nur ein Mythos, sagte er, nachdem die EU seinem Land in den letzten 20 Jahren viele hundert Millionen Euro hat zukommen lassen. Und sein einziger verlässlicher „Freund und Bruder“ sei Xi Jinping aus China, woraufhin er gleich ganz ergriffen die chinesische Fahne küsste. Wie kann es sein, dass die EU-Chefs noch nicht einmal im unmittelbar eigenen Umfeld wenigstens geostrategisch denken, wenn schon nicht humanitär? Gegen diese Ignoranz gibt es erfreulichen Widerstand aus dem Europäischen Parlament. Der Handelsausschuss hat in einem Brief an die Kommission diese Haltung der EU mit einem Text kritisiert, den wir Grüne vorgeschlagen hatten. Im Auswärtigen Ausschuss wurde auf unsere Initiative hin beschlossen, das ebenfalls zu tun. Auch andere Kollegen haben sich da engagiert. Und ja, immerhin werden die Balkanstaaten jetzt an der gemeinsamen Beschaffung von medizinischen Geräten beteiligt. Aber ich habe den Eindruck, als müsse jeder einzelne Schritt zu dem, was eigentlich die politische Vernunft gebietet, mühsam erkämpft werden. Und dann bleibt ja auch noch die weitere Frage nach unserem Verhalten gegenüber unseren weltweiten Partnern. Die Corona-Krise wird Afrika und den Nahen Osten nicht verschonen. Könnte die EU nicht proaktiv daran gehen, angesichts der absehbaren Überforderung von so vielen Entwicklungsländern im Kampf gegen das Virus, von sich aus Schuldenerleichterungen zu thematisieren, ohne die nicht nur die allerschwächsten Staaten an der Situation zu zerbrechen drohen? Können wir nicht auf Exportverbote verzichten für medizinisches Gerät und uns lieber darauf konzentrieren, durch eine effektive Pandemie-Wirtschaft, wie Annalena Baerbock das nennt, genug der weltweit erforderlichen Produkte herzustellen, um diese mit Ländern, die schwächer sind als wir, zu teilen?
Die EU steht nicht gut da in der Krise. Sie hat, so scheint es, nur die Auswahl zwischen schwachen demokratischen Anführern und autokratischen Verführern. Und doch will ich daran glauben, dass es uns gelingen kann, in der Krise, weil wir wissen, dass wir, wenn jedes EU-Land national auf sich allein gestellt wäre, sicher scheitern müssten, dass es uns gelingen kann, eine neue Seite aufzuschlagen. Eine Seite mit mehr ökonomischer und sozialer Solidarität, geprägt von erneuertem demokratischen Geist und bereit zu globaler Verantwortung. Dabei hilft es nicht, zu sagen, die EU muss, die EU soll. Das Hauptproblem liegt darin, dass im Moment in zu vielen Mitgliedsländern der nationale Eigennutz und Eigensinn vorherrschen. Können wir Bürger das nicht ändern, dann hat das für unser europäisches Projekt fatale Folgen. Doch wenn es besonders dunkel erscheint, können wir uns an Bert Brecht erinnern, der 1944 in seinem Lied von der Moldau schrieb: „Am Grunde der Moldau wandern die Steine. Es liegen drei Kaiser begraben in Prag. Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine. Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.“ Mir wäre es egal, wenn die EU ihre notwendigen Veränderungen nicht aus höherer Einsicht vollziehen würde, sondern aus blanker Not. Vielleicht können wir ja einen Spruch von Churchill über die amerikanische Außenpolitik einmal auf die EU anwenden: „They always get it right, after first having exhausted all other options.“ Mit den falschen Optionen sind wir jetzt ziemlich durch. Wir müssen das jetzt richtig machen.
Sonst noch
- Am 28.02. wurden Lee Cheuk Yan, Jimmy Lai und Yeung Sum in Hongkong verhaftet. Gemeinsam mit 23 weiteren Abgeordneten aus vier verschiedenen Fraktionen des Europäischen Parlaments fordere ich in einem Brief an Carrie Lam, dass alle Vorwürfe gegen sie fallen gelassen werden.
- Am 26.03. hat das Europäische Parlament getagt und mit großer Mehrheit wichtige Maßnahmen bezüglich der Corona-Krise verabschiedet. Wie die meisten Abgeordneten habe ich von zu Hause aus abgestimmt.
- Am 31.03. hielt ich im Rahmen des Webinars „Rohstoffkrisen! – Rohstoffstrategien | Wege zur nachhaltigen Nutzung von Bodenschätzen“ einen Vortrag. Die Veranstaltung wurde in Kooperation mit der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt e. V. durchgeführt.
- Am 01.04. fand unsere jüngste Grüne/EFA-Fraktionssitzung statt, wieder per Videokonferenz. Die nächsten Sitzungen meiner Ausschüsse (Handel und Außenpolitik) sind in der zweiten Aprilhälfte.
- Am 01.04. diskutierte ich mit Student*innen des College of Europe in Natolin in einer Videokonferenz über europäische Außenpolitik, besonders in Bezug auf China.
Bildquelle: https://coronavirus.jhu.edu/map.html (Stand: 03.04.2020, 10:36 Uhr)