Es ist Galileos berühmtester Satz: „Eppur si muove“, und sie bewegt sich doch. Die Erde bewegt sich um die Sonne, meinte er damit. Das war zu seiner Zeit revolutionär und deswegen ein gefährlicher Satz. Auf die EU passt Galileos Sentenz auch. Ich würde sogar sagen, dass damit eine Art Bewegungsgesetz in der Entwicklung der EU beschrieben wird. Das Zusammenwachsen Europas wird mit der Formel von der „ever closer union“ idealisiert. Tatsächlich war es immer wieder ein Wechselspiel von Stagnation, Krise, aufkeimenden Zweifeln daran, ob es überhaupt einen Weg nach vorne geben werde, und dann doch entscheidender Bewegung. Eben noch herrschte verhängnisvoller Stillstand, aber jetzt bewegt sie sich. So ist es nun wieder mit der Entscheidung der EU-Mitgliedsländer, endlich Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien zu beginnen.
Nordmazedonien und Albanien hatten nach Bewertung der Europäischen Kommission und auch des Europäischen Parlaments die für sie jeweils aufgestellten Kriterien für den Beginn solcher Verhandlungen seit Jahren erfüllt. Immer wieder aber fanden sich Gründe und Vorwände, die Entscheidung hinauszuzögern. Dabei war die Ursache für die andauernde Blockade für jeden, der die Augen nicht mutwillig verschloss, offenkundig: Die europäische Politik war ganz überwiegend davon überzeugt, dass es politisch riskant sei, sich auf Erweiterungsdebatten einzulassen, weil man fürchtete, dafür bei den eigenen Bürgern kein Verständnis zu finden. Es war in Vergessenheit geraten, dass Erweiterungspolitik nicht für die eigenen Bürger eine Zumutung und für die Erweiterungskandidaten eine Gnade war, die man ihnen je nach Folgsamkeit gewähren oder verweigern konnte, sondern dass sie lange Zeit das stärkste Instrument gewesen war, mit dem die EU ihr unmittelbares europäisches Umfeld im eigenen Interesse und zu eigenem Nutzen prägte. 2004 Estland, Lettland, Litauen, Polen, die Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn aufzunehmen (neben Malta und Zypern), lag eben nicht nur im Interesse der betroffenen Länder, sondern im Interesse der aufnehmenden EU ebenfalls. Dasselbe galt danach für Rumänien, Bulgarien und Kroatien. Es ging darum, die gesellschaftlich-ökonomische Transformation dieser Länder mit ihrer Integration in die europäische Familie zu verknüpfen, um zu verhindern, dass zwischen der EU der 15, die wir bis dahin hatten, und Russland, dessen revisionistische Tendenzen damals schon sichtbar wurden, eine Zwischenzone europäischer Unsicherheit entstehen würde. Soweit ich mich erinnern kann, war diese Erweiterungspolitik damals in Deutschland nicht wesentlich umstritten. In einigen anderen Ländern, Frankreich etwa, stieß sie durchaus auf Vorbehalte, obwohl die damals nicht durchschlagend wurden.
Eine Wende in der europäischen Erweiterungspolitik entwickelte sich im Umfeld der Auseinandersetzung um die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Diesem Land waren entsprechende Zusicherungen schon Jahrzehnte vorher gemacht worden, aber als es dann so weit war – in Deutschland war es die rot-grüne Bundesregierung, die den entsprechenden Beschluss mittrug –, gelang es nicht, darüber zwischen allen wesentlichen demokratischen Parteien eine grundlegende Einigkeit zu erzielen. Zahlreiche Akteure im liberalen und im konservativen Lager verweigerten sich dieser Perspektive. Alle anderen Erweiterungsperspektiven gerieten in den Schatten dieser türkischen Causa. Dass es heute möglich ist, über Beitrittsverhandlungen mit Ländern des westlichen Balkans zu reden, ohne dass gleich die angebliche türkische Gefahr an die Wand gemalt wird, das „verdanken“ wir im Wesentlichen, scheint mir, dem Umstand, dass der türkische Präsident Erdoğan, der selbstherrliche Autokrat, irgendwann entschied, dass ihm die europäische Beitrittsperspektive aktuell deutlich weniger prioritär war als die mit europäischen Prinzipien nicht vereinbare Zementierung seiner persönlichen Macht im gesellschaftlichen und politischen System der Türkei. Die Veränderungen, die uns heute anders über Erweiterungsfragen diskutieren lassen, waren vor sechs Jahren noch nicht absehbar. Als EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker damals, zu Beginn seiner Amtszeit, rabiat erklärte, in den fünf Jahren, für die er gewählt war, werde es keine Beitritte geben, empörte das nur eine relativ kleine Zahl von politischen Akteuren und Beobachtern. Für die Länder des westlichen Balkans war es ein böser Schock, aber das zählte in Brüssel und in den anderen Hauptstädten wenig. Erweiterungspolitik war in den Geruch geraten, einer allzu großzügigen Bereitschaft der EU zur Teilung der Vorteile der Integration mit solchen Ländern zu entspringen, die in Wirklichkeit zu Europa nichts Wesentliches beizutragen hätten und deshalb eben, wie gesagt, als Bittsteller zu behandeln seien, nicht als Partner, als lästige, je länger sie sich bemühten.
Bevor es allerdings nun möglich wurde, wieder zu einer aktiven Erweiterungspolitik überzugehen, und das findet mit dem aktuellen Beschluss zu Nordmazedonien und Albanien tatsächlich statt, musste ein weiterer Faktor hinzukommen. Die EU musste lernen, zu verstehen, wie viel wir zu verlieren hätten, wenn wir diesen Ländern die europäische Perspektive entweder offen verweigerten oder jedenfalls die Beitrittsverhandlungen so führten, dass sie bestenfalls an den sprichwörtlichen calendas graecas, also am Sankt-Nimmerleins-Tag, zu Ende kämen. Immer mehr kundige Beobachter wiesen warnend darauf hin, dass die Verweigerung einer konkreten Beitrittsperspektive die Westbalkanländer der Hoffnung beraubte, die erforderlich war, um das eigene Land wirksam voranzubringen, dass sie ihnen in großem Umfang die Jugend raubte, die mangels anderer Perspektiven nach Westen zog, und dass sie sie den mehr oder weniger geschickt getarnten Einflussstrategien externer Akteure wie Saudi-Arabien, Türkei, Russland oder China auslieferte. Der westliche Balkan als Basis für Anti-EU-Politik, das war eine Perspektive, die stückweit Plausibilität zu gewinnen begann. Beispiele finden sich in Russlands Aktivitäten in Serbien, in Saudi-Arabiens Moscheenbauprogramm oder in Chinas Versuchen, im Rahmen der sogenannten 17+1-Beziehungen einen eigenen Brückenkopf in Südwesteuropa zu kreieren. Ein konkretes Beispiel für die letztgenannte Entwicklung wäre etwa die berüchtigte Autobahn, die China in Montenegro baute und für die sich dieses Land in eine Schuldabhängigkeit von Beijing treiben ließ. Der bulgarische Premierminister Borissow hat einmal, als sein Land die rotierende EU-Präsidentschaft übernahm, in einer Rede im Europäischen Parlament die Haltung, die sich auf dem Balkan ausbreitete, in das Argument gefasst, entweder werde die EU den Ländern dort helfen oder diese müssten sich eben an Russland und China wenden. Der serbische Präsident Vučić hat die taktischen Spielchen, die auf dieser Haltung basieren, zu seinem politischen Geschäftsmodell entwickelt. Und wir sollten nicht einfach die Nase rümpfen. Es wäre zu billig, diesen europäischen Ländern ihre Verführbarkeit vorzuwerfen, wenn wir diese Verführbarkeit dadurch ständig füttern, dass wir ernsthafte Partnerschaft verweigern. Doch schließlich ist das „geopolitische“ Denken unvermeidlich geworden, denn die Abkehr so vieler internationaler Akteure vom Multilateralismus und die Hinwendung vor allem der Herren Putin, Trump und Xi Jinping zu neuer Großmachtpolitik zwang die EU, zu begreifen, dass wir unseren eigenen europäischen Multilateralismus konsolidieren müssen, wenn wir mit diesem Modell globaler Governance nicht immer weiter zurückgedrängt werden wollen. Weniger höflich formuliert: Eine EU, die im eigenen Hinterhof redlichen Multilateralismus nicht praktiziert, kann nicht hoffen, auf irgendeiner anderen Bühne damit glaubwürdig und wirksam zu sein. Wir merkten: Im Westbalkan geht es auch um uns.
Man kann natürlich nicht behaupten, dass jetzt alles in Butter sei, nur weil diese neuen Gespräche aufgenommen werden. Beitrittsverhandlungen mit Serbien und Montenegro laufen seit langem und stagnieren seit langem. Für mögliche künftige Gespräche mit Bosnien-Herzegowina und Kosovo hat wohl noch niemand eine halbwegs praktische Idee. Trotzdem gilt: Es bewegt sich eben wieder etwas.
Bewegung gibt es auch bei der Methode der Beitrittsverhandlungen. Der Prozess wird politisiert und damit ehrlicher. Der Prozess unterstellt in Zukunft nicht mehr, dass es nach Aufnahme von Beitrittsverhandlungen grundsätzlich nur noch nach vorne gehen kann, sondern er wird sich an konkreten Ergebnissen bemessen und Rückschritte gegebenenfalls durch entsprechende Maßnahmen sanktionieren. Ich erwarte mir davon mehr Ernsthaftigkeit. Gleichzeitig will die EU noch eine dritte Dimension adressieren, nämlich die der notwendigen Infrastrukturinvestitionen in den Beitrittskandidatenländern. Wir wollen stärker als bisher schon anfangen, die Bedingungen „on the ground“ aktiv zu verbessern, während wir noch verhandeln.
Für mich ist die Entscheidung, von der diese Bütis Woche handelt, auch persönlich eine sehr erfreuliche. Ich habe viele Jahre lang insbesondere die Beziehungen zu Nordmazedonien gepflegt, zu unseren Grünen dort, der DOM-Partei, deren Aufnahme in die Europäische Grüne Partei (EGP) ich engagiert betrieb, auch zu verschiedenen NGOs und zu Zoran Zaev, dem ehemaligen sozialistischen Ministerpräsidenten, und Nikola Dimitrov, dem Außenminister. Letztere hatten aus meiner Sicht unvergessliche Verdienste erworben um die Wiederbelebung der Erweiterungspolitik, als sie sich zu dem bemerkenswerten Schritt entschlossen, den mazedonisch-griechischen Grenz- und Namensstreit dadurch zu überwinden, dass sie – nachgaben. Ich bin froh, dass das erhebliche politische Risiko, das sie damit eingingen, sich nun für ihr Land auszahlt. Im Übrigen bin ich immer noch der Auffassung, dass Zoran Zaev und Alexis Tsipras für das Prespa-Abkommen von 2018, mit dem sie das Tor aufstießen, den Friedensnobelpreis verdient hätten.
Sonst noch:
- Meine Pressemitteilung zur politischen Einigung des Rates für Allgemeine Angelegenheiten über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen der EU mit Nordmazedonien und Albanien könnt Ihr hier nachlesen.
- Am 24.03. fand die erste Sitzung der Grünen/EFA-Fraktion per Videokonferenz statt.
- Am 26.03. tagt das Europäische Parlament. Es sind wichtige Entscheidungen bezüglich der Coronakrise zu treffen. Die große Mehrzahl der Abgeordneten wird hierbei nicht vor Ort in Brüssel sein, sondern von zu Hause aus abstimmen. Hier findet Ihr die Tagesordnung.
- Ich war in den letzten Tagen, obwohl ich zu Hause saß, nicht untätig, vor allem über Twitter (@bueti) war ich unterwegs. Teilweise wurde ich damit auch zitiert, so z. B. im Handelsblatt zu Chinas Verantwortung für die Corona-Pandemie, in der New York Times zu Angela Merkels Rede an die Nation und in der FAZ zu höheren US-Zöllen auf europäische Flugzeuge sowie Flugzeugteile.
- Die Liste von Themen, zu denen aus unseren Reihen Webinare angeboten werden, wird regelmäßig erweitert. Wir freuen uns über viele Teilnehmer*innen.
- Am 28.03. startet um 20:30 Uhr die jährliche Earth Hour. Hier findet Ihr verschiedene Beteiligungsmöglichkeiten.
- Wie schon letztes Mal gesagt, arbeiten mein Team und ich bis auf Weiteres von zu Hause aus an den Grünen Themen. Ihr erreicht uns wie bisher unter den angegebenen E-Mail-Adressen. Die Büros in Brüssel, Berlin und Erfurt sind telefonisch nicht erreichbar.