#147 Wie kommen wir in Thüringen auf 5,2 Prozent? | BÜTIS WOCHE

Es hat keinen Sinn, drumherum zu reden: Das bündnisgrüne Ergebnis bei der Landtagswahl in Thüringen ist ein Schlag ins Kontor. Zwar stieg die absolute Zahl der Stimmen, die wir erhielten, leicht von etwa 53.500 2014 auf jetzt rund 57.500, aber angesichts einer deutlich gestiegenen Wahlbeteiligung fiel unser Stimmenanteil von 5,7 Prozent auf 5,2 Prozent. An die Stimmenzahl bei der Europawahl – 90.500 – kamen wir auch nicht annähernd heran. Wir verloren Stimmen in verschiedene Richtungen, am meisten mit etwa 12.000 an die Linkspartei.

Besonders stark waren wir zugegebenermaßen in Thüringen noch nie. Das beste Ergebnis mit 6,5 Prozent gab es gleich 1990. Danach verschwanden wir für drei Legislaturperioden aus dem Landtag (1994: 4,5 Prozent; 1999: 1,9 Prozent; 2004: 4,5 Prozent). Vor zehn Jahren gelang mit 6,2 Prozent der Wiedereinstieg. An diesem Wahlsonntag bewahrten uns nun weniger als 2.000 Stimmen über der Fünf-Prozent-Hürde vor einem neuen Ausscheiden. Zweifellos gibt es in Thüringen langanhaltende, strukturelle Gründe dafür, dass uns Bündnisgrünen Wahlerfolge schwerer fallen als anderswo, auch anderswo im Osten Deutschlands. Nur zwei besonders hervorstechende will ich hier nennen: Thüringen verfügt nur über zwei Städte mit mehr als 100.000 Einwohnern. Die Zugkraft Grüner Großstadtbastionen kann daher weniger ins Gewicht fallen. Zum Zweiten waren in Thüringen fast 50 Prozent der Wahlberechtigten älter als 60 Jahre. In der Altersgruppe sind wir Grünen generell eher schwach. Unter 30-Jährige gab es dagegen noch nicht einmal 200.000. Dass wir in dieser Altersklasse 11 Prozent erzielten, fiel daher nicht stark ins Gewicht.

Aktuell kam ein Faktor dazu, der uns auch in Brandenburg und in Sachsen schon zu schaffen gemacht hatte. Angesichts besonders starker AfD-Landesverbände haben ansonsten für Grün offene demokratisch gesinnte Wählerinnen und Wähler in Brandenburg und Sachsen und nun eben auch in Thüringen sich jeweils entschieden, die Partei des Ministerpräsidenten zu wählen, der man zutrauen konnte, vor der AfD zu landen. In Brandenburg wanderten deswegen Grün geneigte Stimmen zur SPD, in Sachsen zur CDU und nun in Thüringen zur Linken.

Trotz der genannten strukturellen Gründe hatte ich mit einem Ergebnis so nah an den 5 Prozent nicht gerechnet. Die Umfragen, die uns zwischendurch zweistellig gesehen hatten, waren in der letzten Zeit zwar zurückgegangen, aber sie lagen am Ende wenigstens bei 8 oder 7 Prozent. Das Ausmaß an Unterstützung, das die Grüne Bundespartei dem Landesverband gab, war bemerkenswert. Zahlreiche Grüne Promis, vorneweg die beiden Bundesvorsitzenden, bereisten das Land intensiv. Eine stattliche Zahl an Wahlhelfer*innen aus ganz verschiedenen Bundesländern kam dazu. Und auch finanzielle Unterstützung gab es. Die Spitzenkandidatin des Landesverbandes, Anja Siegesmund, war fünf Jahre lang als Umweltministerin durchaus erfolgreich gewesen und galt als beliebt. Zudem war sie unter allen Spitzenkandidaten die einzige Frau. Der Landesverband hatte einen Mitgliederzuwachs zu verzeichnen und viele Mitglieder waren bereit, sich im Wahlkampf aktiv zu engagieren. Die Landesspitzen waren im Wahlkampf ebenso unermüdlich wie die Bundesspitzen.

Wie kann man vor all den Hintergründen das Wahlergebnis verstehen?

Dass dieses Mal in Thüringen einfach nicht mehr drin gewesen sei, glaube ich keine Minute. Ich bin auch nicht dafür, dass man sich jetzt auf Beschönigungen einlässt. Wenn wir bundesweit mehr als doppelt so gut dastehen wie vor fünf Jahren, allgemein eine Grüne Welle erleben, in Sachsen und Brandenburg Rekordergebnisse einfahren, auch wenn diese dort unter dem Niveau liegen, auf das wir gehofft hatten, dann kann ich mich mit minus 0,5 Prozent in Thüringen nicht abfinden. Und es reichen mir auch nicht Scheinerklärungen nach dem Motto, wir seien eben zwischen Ramelow, Mohring und Höcke zerrieben worden. Wenn das so war, warum war es so?

Fertige Antworten habe ich einen Tag danach auch noch keine, aber ein paar Fragen. Wie konnte es passieren, dass wir wesentlich mehr Erststimmen bekamen als Zweitstimmen, dass es eine durchgreifende konsequente Zweitstimmenkampagne gar nicht gab? War es richtig, dass wir im Wahlkampf teilweise mehr als Bindestrichpartei auftraten – Rot-Rot-Grün – denn als eigenständige Grüne Kraft und damit der Anmutung nach in eine politische Phase unserer Parteigeschichte zurückfielen, in der wir nur Ergänzungspartei sein wollten und nicht Kraft eigenständiger Orientierung? War die Art und Weise richtig, wie wir auf die AfD-Gefahr antworteten? Ich habe schon 2016 in Mecklenburg-Vorpommern erlebt, was es bedeuten kann, wenn man auf eine „AfD stoppen“-Rhetorik zuspitzt, statt gnadenlos auf die eigenen politischen Angebote zu konzentrieren. In Schwerin kostete uns das damals die entscheidenden Stimmen für den Wiedereinzug in den Landtag, weil sich zu viele von uns angesprochene Wähler*innen sagten, dass vielleicht doch die SPD einen stärkeren Schutzwall gegen die AfD bilden könnte als die zwar sehr entschlossenen, aber zahlenmäßig schwachen Grünen. Haben wir im Thüringer Landtagswahlkampf die Themen des ländlichen Raumes hinreichend stark gemacht und genügend verdeutlicht, dass wir eine Partei sind, der gerade dieser ländliche Raum enorm wichtig ist? Haben wir als einzige Partei mit einer Frau vornedran genug auf diese Karte gesetzt? War es nicht ein Versäumnis, dass die Parole „#aufgrünkommtesan“ erst drei Tage vor der Landtagswahl eine gewisse Verbreitung fand? Wenn man bei noch nicht einmal 50 Tweets mit diesem Hashtag von Verbreitung reden will. War unsere Online-Kampagnenfähigkeit nicht insgesamt etwas unterentwickelt?

Ich bin überzeugt, wir müssen uns, wenn wir uns erst einmal von den Wahlkampfstrapazen ausgeruht und durchgeatmet haben, solchen Fragen stellen. Gemeinsam. Man kann sich darüber natürlich auch im Streit zerlegen, aber das ist bei gerade mal 5,2 Prozent noch weniger angeraten als generell. Und angesichts dessen, was auf den Landesverband zukommt, ist es zwar notwendig, bei der Analyse der Niederlage Klarheit zu schaffen, aber Nabelschau wäre von Übel.

Drei mögliche Optionen gibt es, wie ich es sehe, in Thüringen. Entweder die Linken und die Union einigen sich auf eine lila-schwarze Mehrheit mit der AfD als mit Abstand stärkster Oppositionspartei. Da müssten wir Grünen um Sichtbarkeit hart kämpfen. Oder es gibt trotz anfänglicher FDP-Verweigerung irgendwann doch eine parlamentarische Mehrheit aus Linken, SPD, Grünen und FDP. Da wäre unsere Sichtbarkeit auch kein Selbstläufer. Oder es kommt in absehbarer Zeit zu Neuwahlen, bei denen wir dann auf der Basis von 5,2 Prozent und durch die letzten Wahlkämpfe ziemlich ausgepowert antreten müssten. Auch kein Wunschszenario. Bei alledem dürfen wir aber natürlich nicht vergessen, was, Schwierigkeiten hin oder her, unser gewichtigstes Pfund ist: der Enthusiasmus von ganz vielen, gerade auch neuen Aktiven. Den dürfen wir nicht aufs Spiel setzen, nicht indem wir uns um selbstkritische Analyse herumdrücken und auch nicht indem wir aus dieser Zerwürfnisse basteln.


 

  • Die letzte Woche war eine Straßburg-Woche. Traditionell berichte ich darüber in meinen Plenarnotizen.
  • Der uigurische Intellektuelle Ilham Tohti erhält den diesjährigen Sacharow-Preis für geistige Freiheit des Europaparlaments. Meine Pressemitteilung 
  • Zorn, Enttäuschung, Scham und ein Vorschlag für Präsident Macron: mein Redebeitrag in der Nordmazedonien/Albanien-Debatte im EP. Und hier meine Pressemitteilung.
  • Zeit-Online bot mir die Gelegenheit, nochmals vor der 5G-Politik der Bundesregierung zu warnen: „Merkels Bückling“.
  • Diese Woche bin ich zu politischen Gesprächen in Washington, D. C. Hauptthema: Chinapolitik.