Ich kann mich nicht erinnern, wann ich Ralf Fücks zum letzten Mal zitiert habe. Er gehört, anders als Bismarck, Shakespeare, Marx, Adenauer, Hegel, die Bibel, die Vorsokratiker und Yogi Berra nicht zu meinen Lieblingsquellen für Zitate, aber dieses Mal hat er einfach den Nagel auf den Kopf getroffen. „Das riecht nach Nord Stream 2 im Quadrat“, war sein Kommentar zur Entscheidung der Bundeskanzlerin Dr. Merkel, zuzulassen, dass Huawei, der chinesische Technologie-Gigant, am Ausbau der deutschen 5G-Inftrastruktur beteiligt werden darf.
Frau Merkels Kotau gegenüber Huawei und der chinesischen Staats-Partei-Führung hat strategisch viel weiter reichende Konsequenzen als ihr dickköpfiges, durch Argumente gar nicht mehr zu bemäntelndes Festhalten am Bau von Putins zusätzlicher Gaspipeline durch die Ostsee. Gemeinsam ist beiden Fällen dreierlei: Sie machen Deutschland in völlig unnötigerweise wirtschaftlich abhängiger von autoritären Regimen. Sie setzen Deutschland in einen scharfen Gegensatz zu den USA. Sie tragen dazu bei, die Europäische Union (EU) in einer entscheidenden Frage der Zukunftsgestaltung zu zersplittern statt zusammenzuführen, und schwächen damit trotz aller anders lautenden Lippenbekenntnisse das verzweifelte Ringen um den Aufbau von Weltpolitikfähigkeit der EU. Zwei große Unterschiede gibt es allerdings auch. Erstens: Mit der Entscheidung für Nord Stream 2 zementiert Frau Merkel für eine Weile eine fossile Infrastruktur, ohne damit verhindern zu können, dass deren Ende absehbar wird. Die Abhängigkeit von Putin, die Nord Stream 2 befördert, ist begrenzt durch die Restlaufzeit fossiler energiepolitischer Verirrungen. Bei dem 5G-Netz dagegen handelt es sich um eine Zukunftstechnologie, die insbesondere für den Kern der deutschen Wirtschaft, die produzierende Industrie und ihre Industrie 4.0-Ambitionen, von ausschlaggebender Bedeutung ist. Zweitens: Wer unbedingt meint, wir bräuchten auch in Zukunft zusätzlich Gas für unsere Energieversorgung, müsste, um nicht von Putin abhängiger zu werden, anderen außereuropäischen Drittstaaten die Tür öffnen. Demgegenüber haben wir beim 5G-Ausbau eine europäische Alternative zu Huawei zur Hand. Ericsson und Nokia können auch 5G. Und es ist industriepolitisch geradezu hirnrissig, wenn auf der einen Seite in Berlin immer wieder vor europäischer Technologieabhängigkeit gegenüber den USA oder China gewarnt wird, und man dann im vorliegenden Falle die Abhängigkeit wählt, statt eine erfreulicherweise existierende europäische Alternative zu nutzen.
Dass Frau Merkel sich über den Charakter der chinesischen Staats-Partei-Führung Illusionen machte, glaube ich nicht eine Minute. Aus Unwissenheit kann sie ihre Entscheidung meines Erachtens nicht getroffen haben. Es bleiben zwei andere mögliche Gründe. Entweder sie hat die Perspektive des Kampfes um europäische Souveränität de facto längst aufgegeben oder sie glaubt, dass Deutschland an dieser Stelle faktisch erpressbar ist, weil zu viele vor allem sehr große Unternehmen zu viele Eier in den chinesischen Korb gepackt haben und fürchten, Xi Jinping könnte die zur Strafe zerstampfen lassen. Welche der beiden kapitulationistischen Varianten auch zutreffen mag, eine Bundeskanzlerin, die sich nicht mehr traut und uns allen nicht mehr zutraut, sollte eigentlich ihre Lizenz zurückgeben.
Wer will, konnte aus vielen Quellen zur Kenntnis nehmen, warum die Beteiligung von Huawei am deutschen 5G-Netz ein Risiko darstellt, das wir uns nicht leisten sollten. Auch ich habe das mehrfach argumentiert (z. B. hier). Der entscheidende Grund lässt sich in einem Satze zusammenfassen: Im Zweifel kann die chinesische Staats-Partei-Führung jederzeit Huawei zu ihrem Instrument machen. Manchmal wird behauptet, Huawei sei eine private Firma. Ich würde sagen, so etwas gibt es in China in Wirklichkeit gar nicht. In einem Land, in dem die Kommunistische Partei (KP) laut Verfassung und eigenem Anspruch für alles die Führungskompetenz einfordert und in dem Gerichte gegen eine solche Herrschaftsweise unabhängigen Schutz nicht bieten, kann, wann immer dies der Führung passend erscheint, auch gegenüber Unternehmen, die formal nicht dem Staat gehören, durchgegriffen werden. Dabei ist die tatsächliche Eigentümerstruktur von Huawei undurchsichtig und manches spricht für mehr oder weniger verschleiertes Staatseigentum. Zudem sorgen in allen wichtigen Wirtschaftsunternehmen Organisationseinheiten der KP dafür, dass deren Wille geschehe. Es war daher eigentlich nur als der Versuch einer offenkundigen Verhöhnung der „Barbaren“ zu verstehen, als Huawei-Gründer und KP-Mitglied Ren Zhengfei öffentlich erklärte, niemals werde er gegen die Interessen seiner Kunden Gebote seiner Partei durchsetzen. Dagegen spricht schon das öffentlich bekannte chinesische Gesetz, wonach alle Chinesen und alle chinesischen Organisationen auf Verlangen der dortigen Staatssicherheit zu Gefallen sein müssen. Die einzige plausible Konsequenz aus dieser Lage haben die Australier gezogen, die klar gemacht haben, dass für sie eine Firma, die unter solchen Bedingungen operiert, kein vertrauenswürdiger 5G-Partner sein kann. Dass man sich in Deutschland stattdessen mit frappierenden Erklärungen chinesischer Provenienz zufrieden geben will, wäre zum Lachen, wenn es nicht zum Weinen wäre. Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI), das, anders als Innenministerium, Außenministerium, Wirtschaftsministerium und die Dienste meint, man könne die mit Huawei verbundenen Sicherheitsrisiken in den Griff kriegen, verweist gerne darauf, noch niemand habe eine von Huawei eingebaute Hintertür in deren Hardware gefunden. Mag sein. Wer aber tatsächlich annimmt, die totalitäre Führung in China beim Wort nehmen zu können, dass sie von dergleichen auch nie Gebrauch machen wolle, wohl wissend, dass selbst unsere US-amerikanischen Freunde kein bisschen davor zurückgeschreckt sind, uns nach Möglichkeit auszuspionieren, der ist nicht nur blauäugig, sondern stellt sich absichtlich blind.
Noch ist „die Katz“ nicht ganz „de Baum nauf“, wie die Schwaben sagen, aber viel Zeit ist nicht mehr. Kritische Öffentlichkeit muss sich zu Wort melden und einmischen und der Bundestag muss sein Recht verlangen. Dass ausgerechnet Deutschland den Anführer macht beim Verzicht auf die Verteidigung der eigenen Sicherheitsinteressen, und das wenige Tage, nachdem Brüssel gerade einen unerwartet kritischen Bericht über die inhärenten Risiken publiziert hatte, das ist, um einen berühmten Franzosen zu zitieren, „schlimmer als ein Verbrechen, das ist ein Fehler“.
Sonst noch
- Deputy Assistant Secretary Robert Strayer, der im State Department in Washington für Cyber- und internationale Kommunikations- und Informationspolitik zuständig ist, hat zum 5G-Thema in einer Telefonkonferenz mit Journalisten Stellung genommen. Wer sich dafür interessiert, wird hier fündig.
- Meine Pressemitteilung zur Brexit-Einigung kurz vor dem EU-Gipfel ist hier zu finden.
- Der Europäische Rat muss eine Lösung für die Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit Nordmazedonien und Albanien finden. Meine Pressemitteilung.
- Gemeinsam mit elf weiteren Abgeordneten des Europäischen Parlaments habe ich in einem Brief an Andrew LEUNG Kwan-yuen, Präsident des Legislativrates von Hongkong (LegCo), meine Solidarität mit bedrohten Mitgliedern des Legislativrates bekundet. Hier ist der Brief und hier ist seine Antwort.
- Monica Frassoni und ich verurteilen den Einmarsch des türkischen Militärs in Syrien. Dies ist mit internationalem Recht nicht vereinbar. Unsere Pressemitteilung.
- Bei den Wahlen in Ungarn hat die Opposition in zehn der 23 größten Städte gewonnen, u. a. in Budapest. Meine Pressemitteilung dazu könnt Ihr hier nachlesen.
- Bei den Wahlen in Polen hat die polnische Grüne Partei Zieloni zum ersten Mal drei Sitze im nationalen Parlament gewonnen. Herzlichen Glückwunsch! Die Pressemitteilung der Ko-Vorsitzenden Małgorzata Tracz und Marek Kossakowski sowie mir ist hier zu finden.
- Am 18. Oktober nehme ich an einer Veranstaltung an der Politischen Akademie Tutzing zum Thema „Neues Parlament, neue Kommission – neues Europa? – Perspektiven europäischer Politik nach den Wahlen 2019“ teil.
- Am 19. Oktober bin ich wieder in Thüringen, um die Grünen vor Ort im Wahlkampf zu unterstützen. Dieses Mal führt mich meine Tour von Saalfeld über Neustadt an der Orla nach Altenburg. Am 27. Oktober heißt es dann für alle Thüringer*innen: Wählen gehen! Grün wählen!
- Am 22. Oktober nehme ich an der „12th CFSP Review Conference“ der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) teil und spreche zum Thema „The Sino-American geo-economic rivalry and the erosion of the multilateral order: How to define and defend European interests“.
- Die nächste Woche ist eine Straßburg-Woche, u. a. stehen folgende Themen auf der Agenda: Gesamthaushaltsplan der EU für 2020, Schlussfolgerungen des Europäischen Rates nach der Tagung vom 17. und 18. Oktober, auswärtige Angelegenheiten.