Liebe Freundinnen und Freunde,
ab dieser Woche ist für mich die politische Sommerpause vorüber. Ich habe mein neues Regionalbüro in Thüringen besucht, habe in Erfurt etliche interessante Gespräche geführt und in Weimar an der Klausur der Grünen Landtagsfraktion teilgenommen. In der zweiten Wochenhälfte werde ich in Vilnius bei einer litauischen Sicherheitskonferenz über Energiepolitik diskutieren. Die Dichte und Dramatik der zahlreichen Probleme, die sich aufdrängen, wenn man nur Zeitung liest oder mehr als einmal am Tag Twitter aufruft, böte die beste Gelegenheit, gleich wieder in Hektik zu verfallen. Mal sehen, wie lange die über den Sommer getankte Ausgeruhtheit reicht.
Ein Thema hat mich in den letzten Wochen besonders bewegt und das war die Entwicklung in Hongkong. Mit einer beispiellosen Mobilisierung, der sich mehrfach mehr als ein Viertel aller Bewohnerinnen und Bewohner dieser Weltstadt aktiv anschlossen, haben die Hongkonger*innen die Welt ebenso überrascht wie Beijing. Sie haben viele beschämt, die sich, vielleicht mit einem bisschen schlechten Gewissen, auf die fatalistische Haltung eingelassen hatten, dass es kaum möglich sei, dem hochzentralisierten Machtmonopol der KP Chinas wirksam entgegen zu treten. Sie haben viele ermutigt, die anderswo auch unter schwierigen Bedingungen für Freiheit, Selbstbestimmung und Gerechtigkeit kämpfen.
Das Europäische Parlament hat die Demokratiebewegung in Hongkong schon vor dem Sommer, am 18. Juli, in einer mit großer Mehrheit beschlossenen Resolution gewürdigt. Der Text findet sich hier. Wie viele andere Parlamente in Europa sich ebenfalls zu einer Stellungnahme durchgerungen haben, weiß ich nicht. Ich vermute, es waren nicht sehr viele. Wir deutsche Grüne haben uns im Bundestag wie im Europäischen Parlament klar positioniert. Die Stimmen von Margarete Bause, Jürgen Trittin und von mir waren hörbar.
Eine gewisse Zeit lang war über die letzten Wochen die Entwicklung in Hongkong weitestgehend durch Eskalationen geprägt. Die Art und Weise, wie die Hongkonger Demokratiebewegung in chinesischen Medien kommentiert wurde, erinnerte in ihrer konfrontativen und dramatisierenden Sprache an die Denunziation der Beijinger Demokratiebewegung vor dem Tiananmen-Massaker 1989. Bestimmte Parteiorgane aus China drohten offen mit einer „militärischen Lösung“. Auf der Seite der Demonstrant*innen in Hongkong gab es, das kann man auch nicht weglassen, mehrfach Gewalttätigkeiten, die der eigenen Sache gewiss schadeten und dazu beitrugen, das Bild einer gefährlichen Ausweglosigkeit entstehen zu lassen. Seit der großen friedlichen Demonstration am vergangenen Sonntag mit etwa 1.7 Millionen Teilnehmer*innen ist der Konflikt zwar nicht entspannt, aber die Eskalationsdynamik vorläufig gebrochen. Die Frage, wie es weitergehen kann, ist nichtsdestotrotz von hier aus kaum zu beantworten. Die Sprachlosigkeit der sich gegenüberstehenden Lager ist außerordentlich groß. Zerschlagen hat sich allerdings vorerst die Hoffnung der Beijinger Seite, die radikaleren Kräfte in Hongkong von der großen Mehrheit der Bevölkerung isolieren zu können.
Stimmt für Hongkong, was in letzter Zeit mehrere Kommentatoren dort immer wieder betont haben: es gibt nur eine politische Lösung? Aber gibt es die? Wird die hinreichend gewollt?
Hongkong ist seit der Rückgabe der ehemaligen britischen Kronkolonie 1997 Teil Chinas. Die Vorstellung eines Teils der Beijing-kritischen Aktivist*innen in Hongkong, man könne vielleicht durch massiven Druck aus der relativen Autonomie Hongkongs eine volle Selbstbestimmung machen, ist meines Erachtens völlig illusionär. Andererseits hat die aktuelle Bewegung in Hongkong demonstriert, dass der Versuch Beijings zur Untergrabung der eigentlich zugestanden Autonomierechte für den Großteil der Hongkonger nicht akzeptabel ist. Eine Bewegungsform für diesen Widerspruch kann meines Erachtens nur gefunden werden, wenn die Führung der KP Chinas die Klugheit aufbringt, sich an Deng Xiaopings Hongkong-Politik zu erinnern. Der hatte nämlich nicht nur versprochen, Hongkong könne 50 Jahre seine Autonomie behalten unter dem Etikett „Ein Land, zwei Systeme“, sondern er hatte darüber hinaus signalisiert, man könne ja diese Frist später noch einmal um 50 Jahre verlängern, wenn das nötig sei. Wie Xi Jinping und seine Führung eine solche Kehrtwende ohne Gesichtsverlust zustande bringen könnten, weiß ich nicht. Der Vertrauensverlust in Hongkong gegenüber Beijing ist wohl so groß, dass jeglicher politischer Ausweg auch nur Schritt für Schritt angegangen werden kann. Jegliche Art von „big bang“ beinhaltete unkontrollierbare Gefahren.
Die Hongkonger Demokratiebewegung hat sehr konsistent fünf Forderungen an die dortige Exekutive ins Zentrum gerückt, deren wichtigste die ist, den Entwurf des Auslieferungsgesetzes, der den Anlass für den ganzen Konflikt bot, offiziell zu beerdigen und nicht nur auf die lange Bank zu schieben. Das wäre meines Erachtens ein erster Schritt, der stattfinden müsste. Die Demokratiebewegung ihrerseits, die sich jedenfalls am letzten Sonntag lernfähig zeigte, müsste großen Wert darauflegen, auf Gewaltlosigkeit zu setzen. Sie sollten die 98 verschiedenen Methoden der Gewaltlosigkeit nach Mohandas Gandhi genau studieren.
Manche Äußerungen offizieller chinesischer Stellen habe ich so gelesen, als wollten die härteren Hardliner in Beijing gar nicht wirklich eine Entspannung. Manche Kommentatoren befürchten immer noch, Xi Jinping könne mit Waffengewalt aus der Volksrepublik in Hong Kong durchgreifen lassen, weil er am 1. Oktober 2019, am 70. Jahrestag der Staatsgründung der Volksrepublik China, keine nach wie vor virulente Hongkonger Opposition dulden würde. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Ich glaube, die politischen und ökonomischen Kosten eines solchen Durchgreifens der Beijinger Führung wären für China außerordentlich hoch. Ich bin auch nicht dafür, dass wir von Europa aus jetzt vor allem darüber spekulieren, wie wir reagieren würden, falls es zum Schlimmsten käme. Nur eines ist natürlich klar: ein „business as usual“ gegenüber Beijing könnte es danach nicht geben. Ich bin übrigens der Meinung, dass die Forderung des Europäischen Parlamentes nach „Mechanismen der Ausfuhrkontrolle (…), um China und insbesondere Hongkong den Zugang zu Technologien zu verwehren, die bei der Verletzung grundlegender Rechte zum Einsatz kommen“, schon unter den heutigen Umständen vollständig gerechtfertigt ist und keiner weiteren Zuspitzung als Voraussetzung bedarf.
Oft habe ich in der Vergangenheit beklagt, dass es in der Europäischen Chinapolitik eine zu große Vielstimmigkeit gebe. Im aktuellen Fall kann man das eigentlich gar nicht sagen. Es gab, und das ist offenkundig nicht besser, eine relativ große Übereinstimmung im – Schweigen aus den allermeisten Mitgliedsländern.
Aus den USA gab es von Donald Trump den reinen Zynismus, er behandelte den Kampf der Hongkongerinnen und Hongkonger um ihre Rechte als taktisches Element in seinem Handelskrieg mit Xi Jinping. Andere Stimmen von Demokraten und Republikanern erinnerten mich an die groß tönenden Worte des verstorbenen Senator John McCain, mit denen dieser vor dem russisch-georgischen Krieg 2008 dem georgischen Mikheil Saakashvili die absolute Solidarität der USA versicherte, um ihn dann selbstverständlich im Stich zu lassen. Wohlgemerkt, das chinesische Märchen von der angeblichen Anstiftung der Hongkonger Demokratiebewegung durch die USA und andere „schwarze Hände“ ist einfach klassische KP-Propaganda. Doch um einen drastischen Ausdruck zu benutzen: es ist sehr abstoßend, wenn manche Leute meinen, sie sollten auf dem Hintern von anderen durchs Feuer reiten.
Die gemeinsame europäische Stimme, die notwendig ist, muss im Kern zum Versuch einer politischen Lösung raten. Und sie muss auch klar machen, dass eine „chinesische Lösung“ à la Tiananmen 1989 Konsequenzen haben würde. Schaffen wir das?
Sonst noch
- Am Dienstag und Mittwoch war ich in Thüringen unterwegs, wo ich jetzt mein Regionalbüro habe. Ich hatte viele interessante Gespräche, u. a. mit Minister Prof. Dr. Hoff sowie mit der IHK-Repräsentanz und dem Landesvorstand der Grünen. Am Mittwoch habe ich auf der Fraktionsklausur der grünen Landtagsfraktion in Weimar mit den grünen Kolleginnen und Kollegen diskutiert. Am 29.08. bin ich für weitere Termine in Erfurt.
- Am Mittwoch nahm ich an einer Diskussion im Funkhaus des Deutschlandfunks zum Thema: “Wie weit will Europa gehen, um die Befreiung Hongkongs zu unterstützen?” teil. Die Aufzeichnung ist hier zu finden.
- Am 22. und 23. August findet in Vilnius die 3. Valdas Adamkus Konferenz statt, auf dem Programm steht eine Debatte zur transatlantischen Energiekooperation. Das Programm könnt Ihr hier abrufen.
- In der nächsten Woche bin ich wieder für ein paar Termine in Brüssel, wo langsam wieder der Betrieb im Europäischen Parlament aufgenommen wird.