#136 Was wäre, wenn… Spekulationen und Überlegungen zum Ausgang der Europawahl | BÜTIS WOCHE

Während der Europawahlkampf auf die Zielgerade einbiegt, wendet sich die mediale Aufmerksamkeit verständlicherweise der Frage zu, welche Konsequenzen die zu erwartenden Verschiebungen im Europäischen Parlament haben werden. Vieles davon ist natürlich Spekulation. Aber Spekulation ist cool. Also spekulieren wir ein bisschen mit.

Ich erwarte, dass die Europäische Volkspartei (EVP) als größte Fraktion etwa 180 Sitze erhalten wird; die Sozialisten & Demokraten (S&D) könnten bei 140 liegen oder, falls Labour in UK gut abschneidet, auch bei 150; die Liberalen plus Macron sehe ich bei 100 und unsere Fraktion bei 60 Sitzen. Die verschiedenen Gruppen von Rechtspopulisten, sogenannten Europaskeptikern, Nationalisten, Autoritären, Rechtsextremen etc., die sich im bisherigen Parlament auf vier Fraktionen verteilten – Europa der Freiheit und der direkten Demokratie (EFDD), Europa der Nationen und der Freiheit (ENF), der Großteil der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) und Teile von EVP –, sehe ich zusammen bei nicht mehr als 200 Mandaten.

Die „Orbán-Koalition“, also EVP und alles, was rechts davon ist, hätte rein rechnerisch vielleicht eine ganz knappe Mehrheit, ist aber politisch nicht vorstellbar, weil die deutliche Mehrheit der EVP sich darauf nicht einlassen wird. Die „Timmermans-Koalition“, von der Vereinten Europäischen Linken/Nordischen Grünen Linken (GUE/NGL) bis zur Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE) oder, wie Manfred Weber höhnte, von Wagenknecht bis Christian Lindner, kommt an die Mehrheitslinie von 376 Sitzen nicht heran. Das weiß Timmermans und er weiß auch, dass das politisch nicht zusammenzuschmieden wäre, aber er redet davon, weil er so einen hypothetischen Führungsanspruch der Sozialdemokraten begründen kann. Faktisch verbleiben also bei einem Wahlergebnis, wie ich es unterstelle, zwei mögliche Mehrheitskonstellationen. Eine, die aus EVP, ALDE und S&D zusammengefügt wird; sie hätte mit vielleicht 430 Sitzen eine rechnerische Mehrheit, wobei aber jeder, der darauf bauen wollte, damit rechnen müsste, dass das Abstimmungsverhalten von ALDE und S&D sich vielleicht nicht wesentlich homogener darstellen wird, als es bisher war. Die zweite Option wäre eine Viererlösung mit S&D, ALDE, EVP und uns. Die hätte eine größere Mehrheit, aber auch deutlich größere politische Spannbreite und größere Widersprüche, wenn sie denn überhaupt zustandezubringen wäre.

Eine feste Koalition, die irgendwie dem entspräche, was wir in Deutschland als Koalitionen kennen, erscheint mir recht unwahrscheinlich. Dafür ist schlicht die interne Heterogenität aller Fraktionen zu groß. Zudem gilt in vielen Ländern schon allein die Vorstellung einer systematischen Kooperation von Mitte-Rechts- und Mitte-Links-Fraktionen als scheußlicher Verrat. Mindestens müsste sich, so scheint mir, eine Mehrheit auf fünf Punkte einigen, wenn sie nicht von vornherein auf Scheitern angelegt sein sollte: die Person des Kommissionspräsidenten oder der -präsidentin, die Person des Präsidenten oder der Präsidentin des Parlaments, die inhaltlichen Anforderungen an das Arbeitsprogramm der Kommission, eine gemeinsame Linie für die Verhandlungen um den nächsten Siebenjahreshaushalt und ein Verfahren, wie mit politischen Widersprüchen zwischen den Beteiligten umzugehen sein wird.

Es ist sicher nicht überraschend, dass das öffentliche Interesse sich weitgehend auf die Personalfragen konzentriert, und dabei deutlich mehr auf den/die Kommissionspräsidenten/-in. Sollten wir Grüne tatsächlich in eine Verhandlungssituation kommen, würden wir uns allerdings so verhalten, dass wir die Personalia von den Inhalten abhängig machen. Wir haben bisher aus guten Gründen niemand ein Unterstützungsangebot signalisiert und auch niemand unter denen, die als Kandidaten für die Juncker-Nachfolge genannt werden, von vornherein ausgeschlossen. Wir werden ganz gewiss niemand unterstützen, der nur mit rechtsradikaler Hilfe ins Amt käme. Und wir werden auch niemand wählen, der nicht für eine europäische Reformagenda steht, in der unsere zentralen Prioritäten eine prominente Rolle spielen. Unser Vorgehen wäre, ganz ähnlich wie wir das nach der letzten Bundestagswahl gemacht haben, davon bestimmt, herauszufinden, auf welche Weise wir Grüne politische Prioritäten mit maximaler Wirkung auf die Agenda setzen und durchsetzen können. Dabei ist unser Ausgangspunkt klar definiert, seit sich die EGP-Mitgliedsparteien im November 2018 in Berlin auf eine Liste von 12 Prioritäten geeinigt haben. Dazu kämen allerdings auch Forderungen bezüglich institutioneller Veränderungen. Dabei würde z. B. das uralte Anliegen der großen Mehrheit des Europaparlaments, endlich ein parlamentarisches Initiativrecht zu erhalten, eine wichtige Rolle spielen oder die Forderung nach einem wirksamen Ausbau der Europäischen Bürgerinitiative oder die nach einer geschlechterparitätisch besetzten Europäischen Kommission und entsprechenden Verfahren zur Besetzung von sonstigen europäischen Spitzenpositionen. Und anderes mehr. Dass wir eine andere, eine wirksame europäische Klimapolitik wollen und deswegen auch wirksame Instrumente, eine solche durchzusetzen, liegt ebenso auf der Hand wie andere Prioritäten im Bereich der Verteidigung des Rechtsstaates oder der Durchsetzung von sozialen Mindestgarantien. Wir wissen heute nicht, wie weit andere Parteien/Fraktionen sich auf solche inhaltlichen Debatten schon vorbereitet haben. Wir wissen aber, dass diese für uns zentral und nicht irgendeine Begleitmusik wären.

Über die Person des oder der nächsten Parlamentspräsidenten/-präsidentin wird nach meinem Eindruck bisher noch nicht übermäßig intensiv spekuliert. Nur von Guy Verhofstadt, dem bisherigen Vorsitzenden der ALDE-Fraktion, weiß man, dass er diesen Posten unbedingt gerne haben möchte. Dabei wäre es ja durchaus angemessen, zuerst nach geeigneten Frauen zu schauen. Aber Verhofstadt fürchtet, dass ihn seine Fraktion als Chef nicht mehr haben will, und hofft, als Parlamentspräsident weiterhin mitspielen zu können. Die Liberalen sind übrigens die einzige politische Parteifamilie, aus der mindestens schon für drei europäische Spitzenämter Kandidat*innen sich anbieten.

Und wer wird nun Kommissionspräsident oder Kommissionspräsidentin? Präsident Macron hat ja mit seinem jüngsten Plädoyer für seinen Landsmann Barnier als Kommissionspräsidenten seine Absicht bekräftigt, den Spitzenkandidatenprozess zu ignorieren. Dafür hat er im Rat mindestens die Liberalen auf seiner Seite. Mit Macrons explizitem Bekenntnis zu Barnier sind die entgegen weit verbreiteter Diskussionen ohnehin schon eher mäßigen Chancen von Frau Vestager auf dieses Präsidentenamt weiter gesunken. Vestagers Problem ist ein doppeltes. Zum einen hat sie mit ihrer vehementen Opposition gegen das Spitzenkandidatenmodell all diejenigen vor den Kopf gestoßen, die nicht bereit sind, einfach zuzusehen, dass die Staats- und Regierungschefs durch Rückkehr zur Methode Hinterzimmer bei der Auswahl der Kommissionsspitze das Europäische Parlament schwächen und damit der europäischen Demokratie einen Bärendienst erweisen. Natürlich wäre es besser, das Spitzenkandidatenmodell mit den transnationalen Listen zu verbinden – und ich bin mir ziemlich sicher, dass wir das in den nächsten fünf Jahren hinbekommen können –, aber weniger Demokratie und weniger Transparenz zu wollen, weil man den Status quo der europäischen Demokratie noch für zu schwach findet, das ist schlicht widersinnig. Zum anderen hat Frau Vestager bei keiner der Parteien, die die nationale dänische Wahl gewinnen können, einen großen Stein im Brett. Und ohne Nominierung aus Dänemark kann sie weder Kommissarin noch Kommissionspräsidentin werden.

An Manfred Weber scheiden sich die Geister. Dass die Brüsseler Blase ihm nicht eben wohlgesonnen ist, ist in der realen Politik nicht so furchtbar wichtig. Seine wirkliche Herausforderung wird sein, ob er in der Lage sein wird, glaubwürdig eine Politik zu verabreden und umzusetzen, die nicht nur mit dem bisherigen Status quo-Kurs der EVP bricht, sondern aktiv wesentlich umfassendere Reformen anpackt, als die EVP im aktuellen Wahlkampf auch nur diskutieren wollte. Man kann erhebliche Zweifel haben, ob das gelingt, aber „the proof of the pudding is in the eating“. Jedenfalls werden wir inhaltlich nicht weniger hart verhandeln, nur weil die EVP vielleicht meint, sie könne oder wolle unseren Forderungen nicht entsprechen. Auch als pro-europäische Opposition zu einer neuen Parlamentsmehrheit wären wir in der Lage, Grünen Einfluss wirksam zu machen. Ich gehe davon aus, dass Manfred Weber versuchen wird, eine Mehrheit für sich zusammenzubauen, bevor der Rat von sich aus eine Nominierung vornimmt. Zeit für lange Hängepartien hat in diesem Spiel niemand. Sollte Weber scheitern, käme die Reihe vielleicht an Timmermans, eine Mehrheit zu versuchen. Ihm gegenüber würden wir mit denselben Kriterien operieren wie gegenüber Weber. Es kann allerdings auch sein, dass der Rat versuchen wird, das Parlament einfach mit einem Vorschlag zu überrumpeln. Viel Respekt vor der europäischen Demokratie, die das Parlament repräsentiert, kann man jedenfalls nicht bei einer sehr großen Zahl von Staats- und Regierungschefs entdecken. Und die Gefahr, dass sie nicht zögern, das Europäische Parlament zu schwächen, obwohl im Kampf gegen die autoritären Nationalisten das Parlament eine starke Bastion sein muss, wenn wir diesen Kampf gewinnen wollen, ist auch nicht zu übersehen. Das ist aus meiner Sicht übrigens der Kern der ganzen Auseinandersetzung in der Diskussion um die Spitzenkandidatinnen und -kandidaten: Sie stehen für den Versuch, die Bedeutung des Europäischen Parlaments zu stärken. Das ist notwendig, weil die Praxis der Regierungen der Mitgliedsländer, die Europäische Kommission zu ihrer Hilfsmagd zu machen, deren frühere Bedeutung deutlich minimiert hat. Wenn Macron bei allen seinen europäischen Reformvorschlägen nicht einen einzigen macht, der dem Europäischen Parlament mehr Relevanz verleiht, und Frau Kramp-Karrenbauer in ihrer Antwort auf Macron sogar explizit dafür plädiert, die Rolle des Parlaments einzuschränken, dann ist klar, dass es da nicht nur um einen symbolischen Kampf geht. Wir Grüne wollen diesen Kampf führen. Timmermans sagt ebenfalls sehr entschieden, dass er da an Bord ist. Und die EVP hat neben dem demokratischen Prinzip, das jedenfalls ihrem liberalen Teil wichtig ist, auch noch das Parteiinteresse im Auge, aus dem heraus sie Weber durchsetzen wollen. Eine sichere Mehrheit ist das nicht. Aber mit Fatalismus hat man noch nie gewonnen. Wir werden sehen, was geht.

Ein Kampf, der ziemlich schnell nach der Europawahl ins Zentrum rücken wird, ist bis jetzt noch kaum im Blick. Das ist der um die einzelnen Kommissare. Man kann ja gespannt sein, was für Kommissare z. B. aus Ungarn, Polen, Italien, Österreich, Rumänien oder Bulgarien vorgeschlagen werden. Das wird eine Folge von sehr heftigen Gefechten werden.

Für uns Grüne heißt das alles, dass wir als Parteifamilie und als Fraktion einen großen Schritt nach vorne machen müssen, um europapolitikfähiger zu werden, als wir bis jetzt waren. Je stärker wir am Wahltag werden, desto leichter wird uns das natürlich fallen. Die Prognosen sind gut. Politico prognostiziert für uns in seiner letzten Analyse 54 bis 58 Sitze. Das Europäische Parlament sagt für uns in seiner jüngsten Analyse 59 Sitze voraus. Und nach unseren eigenen Zahlen könnten wir auf 62 Sitze kommen. Nur noch kurze Zeit Wahlkampf, dann ist es geschafft. Dann haben wir die Basis dafür gelegt, dass wir einen neuen Kampf aufnehmen dürfen.