Endlich! Endlich scheint die Industriepolitik in der Europäischen Union ansatzweise die Aufmerksamkeit zu bekommen, die sie längst verdient.
Mit dem Übergang der Amtsgeschäfte des EU-Kommissionspräsidenten von José Manuel Barroso zu Jean-Claude Juncker im Jahr 2014 hatte die Industriepolitik der EU enorm an Zentralität eingebüßt. Barroso hatte, vor allem zusammen mit den Kommissaren Tajani und Oettinger, der EU das Ziel gesetzt, insgesamt den Anteil der Industrie an der Bruttowertschöpfung unionsweit auf 20 % zu erhöhen. Tatsächlich lag die EU zu jenem Zeitpunkt fünf Punkte unter diesem Ziel, Tendenz weiter sinkend. Nur einzelne Länder wie Deutschland, aber auch Rumänien, konnten noch mit Zahlen deutlich über 20 % renommieren. Ich habe damals für das Europäische Parlament einen Bericht über europäische Industriepolitik geschrieben, in dem ich versuchte, das rein quantitative Ziel der Kommission qualitativ aufzubessern. Das Akronym, das wir damals benutzten (erfunden hat es Roderick Kefferpütz, der mit mir an dem Bericht arbeitete), hieß RISE und das stand für Renaissance of Industry for a Sustainable Europe. Die Kernthese war: Nur auf der Basis von Nachhaltigkeit ist eine vernünftige und wettbewerbsfähige industrielle Zukunft vorstellbar. Ich bekam damals für den Bericht samt dem schönen Akronym eine saubere Mehrheit im Europäischen Parlament, obwohl nach meiner Erinnerung nicht alle Grünen zustimmten; manchen war das wohl zu „wirtschaftsnah“. Tatsächlich die Diskussion zu prägen, gelang damit aber nicht. Die erste industriepolitische „Großtat“ der neuen Juncker-Kommission wurde von ihrem Ersten Vizepräsidenten Timmermans vollbracht, der unter dem Lobbyeinfluss von BusinessEurope und wegen der Interessen der niederländischen Müllverbrennungsbranche erst einmal die gegen Ende von Barrosos Amtszeit noch angenommene Strategie zur Kreislaufwirtschaft kassierte. Die Industriekommissarin Bieńkowska aus Polen wurde politisch ziemlich schnell in ihren Handlungsmöglichkeiten ziemlich eingeschränkt. Wichtige Mitarbeiter verließen die entsprechende Generaldirektion, weil sie anderswo bessere Gestaltungsmöglichkeiten sahen. Nach dem ersten Jahr hatte Timmermans dann unter dem Druck der Ökofront seiner eigenen Mitarbeiter*innen und auch aus wichtigen Teilen der Industrie einen neuen Anlauf für die Kreislaufwirtschaft vorgelegt. Aber der Schwung war weg. Frau Bieńkowska verlegte sich darauf, unter Berufung auf die Industriekompetenz der EU der Rüstungsbranche unter die Arme zu greifen. Das gelang ihr, weil sich auf diese trickreiche Art und Weise ein Weg finden ließ, um das Verbot der Finanzierung von Militärausgaben über das EU-Budget zu umgehen. Auch auf anderen Feldern war die Kommission nicht völlig tatenlos. So betrieb Vizepräsident Dombrovskis sehr effektiv eine Initiative unter der Überschrift „Greening Finance“. Die Plastikstrategie wurde als Teil der Circular Economy entwickelt mit durchaus guten Ansätzen. Derzeit behandeln wir gerade noch das Digital Europe Programme, das die Kommission initiiert hat. Auch die Energiepolitik stand nicht still. Doch unter dem Strich hat es die Juncker-Kommission versäumt, die Industriepolitik, und zwar eine ökologisch aufgeklärte und sozial verantwortliche Industriepolitik, kohärent anzugehen und für eine solche Orientierung wirksam öffentlich zu werben.
Jetzt ändert sich etwas, erfreulicherweise, aber, wie es so schön heißt, der Not gehorchend, nicht dem eigenen Triebe. Die Not, das ist die Zangenwirkung des amerikanisch-chinesischen Wettlaufs um Technologiedominanz auf Europas Wirtschaft und vor allem die Industrie. Seit China mit der Made in China 2025-Strategie einen extrem ambitionierten wirtschaftsnationalistischen Kurs in der Industriepolitik eingeschlagen und angefangen hat, diesen Kurs Schritt für Schritt umzusetzen, ist Europa mehr und mehr aufgewacht. Dass der amerikanische Präsident Trump von der anderen Seite her mit seinen verschiedenen Konfrontationsstrategien Europa zusätzlich unter Druck setzt, tat ein Übriges. Das Umdenken ist nun in vollem Gange und zum Teil weit vorangeschritten. Dafür spricht z. B. das Papier des BDI zur Chinapolitik, auf das ich schon an anderer Stelle hinwies.
Nun hat endlich auch die Berliner Politik der Großen Koalition reagiert. Olaf Scholz redete von Industriepolitik und zuletzt auch Wirtschaftsminister Altmaier.
Ich habe an Altmaiers Aufschlag eine ganze Menge auszusetzen. Das will ich nicht an dieser Stelle alles aufführen. Das größte Manko liegt darin, dass Altmaier faktisch eine nationale Industriestrategie entwickelt, so hat er das Papier ja auch genannt, und Europa nur als Nebensatz vorkommen lässt. Aber, und das halte ich tatsächlich für einen entscheidenden Fortschritt: Die Debatte ist jetzt im Heiligtum der Ordoliberalen angekommen, im Wirtschaftsministerium. Dort, wo man jahrzehntelang Kreuze schlug, um das Böse zu bannen, wenn einem jemand begegnete, der von Industriepolitik auch nur sprach. Industriepolitik, das war Planwirtschaft, Kryptokommunismus, französischer Etatismus, Gewerkschaftsanmaßung oder sonst eine schreckliche Todsünde. Die Wirklichkeit hat sich nun wie eine ätzende Säure durch diese Betonblockade durchgefressen.
Bei uns Grünen wird die Debatte über Industriepolitik erfreulicherweise schon eine Weile gepflegt. In Fachkreisen zumeist, aber auch in Programmen. Und bei der letzten BDK hat Annalena Baerbock in ihrer Rede dem Thema schöne Aufmerksamkeit gewidmet. Aktuell haben Kerstin Andreae, Katharina Dröge und ich mit einem programmatischen Artikel versucht, unseren Diskussionsstand in den wesentlichen Zügen abzubilden. Der Tagesspiegel hat den Text publiziert. Wir finden, dass die richtige Industriepolitik auf den Vierklang digital, ökologisch, sozial, europäisch gegründet sein muss. Wir werden auch am 11. Februar eine Veranstaltung organisieren, bei der wir auf der Basis dieser Thesen mit DGB-Chef Hoffmann, BDI-Hauptgeschäftsführer Dr. Lang und Dr. Peter Dröll von der Generaldirektion Forschung und Innovation der Europäischen Kommission diskutieren werden.
Ich glaube, für uns Grüne ist diese Debatte, die natürlich auch eine Außenhandelsseite hat, deswegen von besonderer Relevanz, weil wir auf der einen Seite nicht hoffen können, unser Ziel einer ökologisch-sozialen Transformation der Wirtschaft zu realisieren, ohne dafür die Industrie an Bord zu holen, und weil zum anderen die Zukunftsaussichten der europäischen Industrie angesichts der sich verschärfenden internationalen Konkurrenz sich ziemlich verdüstern werden, wenn diese nicht die grüne Herausforderung als Chance begreift. Der Umstand, dass die Gesprächsbereitschaft gegenüber uns Grünen in der Industrie wohl noch nie so groß war wie gegenwärtig, spricht dafür, dass wir nicht die Einzigen sind, die darin eine Chance suchen. Schöne Aussichten!
Sonst noch
- Wenn man mit dem Kopf nicht durch die Wand kommt, sollte man irgendwann aufhören, dagegen anzurennen. Meine Pressemitteilung zum französischen Nein zur Gaspipeline Nord Stream 2.
- „Im Wilden Westen nichts Neues“: Meine Pressemitteilung zu Trumps „State of the Dis-Union“-Rede.
- Meine Pressemitteilung zur Entscheidung der EU-Kommission gegen die Siemens-Alstom-Fusion könnt Ihr hier nachlesen.
- Die USA steigen aus dem INF-Vertrag aus, der seit 1987 Mittelstreckenraketen in Europa verbot. Meine Pressmitteilung dazu ist hier zu finden.
- Die kommende Woche ist eine Straßburg-Woche, viele Themen stehen auf der Agenda: Aussprache mit dem italienischen Ministerpräsidenten, Giuseppe Conte, über die Zukunft Europas, europäische Industriepolitik in Bezug auf künstliche Intelligenz und Robotik, Überprüfung ausländischer Direktinvestitionen in der EU, Partnerschaftsabkommen zwischen der EU und Singapur und mehr.