Gemeinsam mit den Grünen Bundestagsabgeordneten Kerstin Andreae und Katharina Dröge habe ich im Tagesspiegel einen Gastbeitrag zum Thema europäische Industriepolitik veröffentlicht.
Europa braucht dringend eine gemeinsame Industriepolitik als Kern einer gemeinsamen Zukunftsstrategie. Im Wettlauf mit den USA und Asien wird sich in den nächsten fünf bis zehn Jahren Europas Rolle als global relevanter Industriestandort entscheiden. Allein kann kein Land Europas im internationalen Technologie-Rennen erfolgreich sein.
Europas industrielle Basis ist gut, Europa ist technologisch stark, verfügt über große Forschungskapazitäten, hochqualifizierte Arbeitskräfte – und auch über genug Gelder, wenn öffentlich und privat die Prioritäten richtig gesetzt werden. Aber Europa fehlt eine gemeinsame industriepolitische Strategie.
Als Leitbild eines solchen Ansatzes schlagen wir den Reform-Dreiklang „Digital – Ökologisch – Sozial“ vor. Zeitgemäße Industriepolitik wirtschaftet nicht auf Kosten künftiger Generationen oder zu Lasten von Umwelt und Klima. Sie betrachtet gute Arbeit und soziale Sicherung als gleichwertige Ziele. Sie setzt gerade wegen der Digitalisierung auf umfangreiche Aus- und Weiterbildung.
Industriepolitik muss ordnungsrechtlich basiert und branchenübergreifend sein. Sie darf keine Silo-Politik für einzelne Sektoren betreiben. Zu ihren Markenzeichen gehört auch eine grüne Finanzbranche, die den ökologischen Umbau finanziell mit vorantreibt.
Wir brauchen neue Antworten auf drängende wettbewerbsrelevante Entwicklungen. Die EU würde handlungsfähiger, wenn sie das Einstimmigkeitsprinzip in Steuerfragen abschafft. Einheitliche Mindeststeuersätze in der EU und angemessene Steuern für Digitalkonzerne gehören dazu. Auch bessere Abschreibungsregeln für klimafreundliche Investitionen sind sinnvoll. Für wirklich fairen Wettbewerb müssen Ressourcen und Emissionen zudem endlich einen fairen Preis bekommen.
Statt Sonderregeln für Großkonzerne braucht es ein starkes Kartellrecht und unabhängige Kartellbehörden. Im Zeitalter von Big Data und digitalen Plattformen müssen die Datensammlung und die Integration unterschiedlicher Geschäftsfelder viel stärker in den Fokus der Kartellbehörden rücken. Ebenso der Verbraucher- und der Klimaschutz. Europa darf auch nicht ignorieren, wenn anderswo Konzerngiganten entstehen, die europäische Unternehmen unter Druck setzen.
Der “Made in China 2025”-Strategie und der chinesischen Einkaufstour in Europa kann die EU nicht distanziert zuschauen. Wir wollen strategische Infrastruktur schützen und unterstützen deshalb ein Investitionsscreening auf EU-Ebene. Dieses muss auch Strukturen wie das 5G-Netz erfassen. In der Außenwirtschaft muss die EU für internationale Regeln und Multilateralismus werben. Sie wäre auch der ideale Akteur für ein Bündnis aus Staaten, die für Menschenrechte und hohe Sozial- und Umweltstandards einstehen. Ohne einen Kurswechsel in der EU-Handelspolitik wird dies freilich nicht zustande kommen.
Ohne das EEG hätte der internationale Ideenwettbewerb für nicht-endliche Energieformen keinen derartigen Aufschwung erfahren. Auch anderswo spielt der Staat eine wichtige Initiativ-Rolle, etwa bei der amerikanischen Behörde DARPA, die an vielen bahnbrechenden Innovationen beteiligt war.
Die öffentliche Hand muss Initiativen ergreifen, wo sonst strategische Investitionen in F&E versäumt werden. EU-Förderprogramme haben dabei eine zentrale Funktion. Im Bereich Verkehr ist es wichtig, neben der europäischen Batteriefertigung die Wasserstoff-Technologie nachdrücklich zu fördern.
Bei der Künstlichen Intelligenz wird es darauf ankommen, dass wir die Kraft der nationalen Anstrengungen europäisch bündeln, vor allem hinsichtlich der Cybersicherheit. Insgesamt soll jeder Forschungs-Euro der EU mit 10 bis zwölf Euro aus nationalen oder regionalen Budgets sowie aus der Wirtschaft ergänzt werden, wenn wir international mithalten wollen. Wenn die öffentliche Hand Innovationen finanziert, soll sie auch an deren Renditen teilhaben, um reinvestieren und Risiken abfedern zu können. Eine „goldene Aktie“ an Patenten könnte sicherstellen, dass Patentinhaber nach einer Schutzphase Lizenzen an andere Entwickler vergeben.
Die Industrie beschäftigt 32 Millionen Menschen in Europa, seit 2013 sind rund 1,5 Millionen Jobs neu entstanden. Die Jugendarbeitslosigkeit etwa ist aber mancherorts noch erschreckend hoch. Industriepolitik muss darauf antworten und die Beschäftigten bei strukturellen Umbrüchen schützen.
Zentral ist das Thema Ausbildung. Ein breiteres Erasmus-Plus-Programm für alle Ausbildungsniveaus, ein Anspruch auf sechs Monate Lernen im Ausland wären sinnvolle Möglichkeiten. Die Solidargemeinschaft Europa muss auch für eine bessere soziale Absicherung sorgen – letztlich auch mittels einer Rückversicherung für die nationalen Arbeitslosenversicherungssysteme und einem Zukunftsfonds, der den Investitionsstau in vielen Teilen Europas angeht. Privatsektor und Staat müssen bei der Weiterbildung an einem Strang ziehen, etwa über eine Art „duales System plus”.
Die EU ist einst aus dem industriepolitischen Bündnis der Montanunion entstanden. Wir sind überzeugt: Mit einer modernen industriepolitischen Strategie, die das Nachhaltige und das Soziale einschließt, ist heute ein neuer kraftvoller Aufbruch möglich.
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