Eine der großen außenpolitischen Aufgaben der EU, die in der nächsten Amtszeit des Europäischen Parlaments und der dann auch erneuerten Europäischen Kommission gemeistert werden müssen, ist die Entwicklung einer gemeinsamen europäischen China-Politik. Zwar gibt es seit 2016 eine China-Strategie der EU, die auch viele gute Konzepte enthält. Aber deren praktische Relevanz ist sehr überschaubar. Ich habe schon Akteure aus nationalen Außenministerien getroffen, die völlig überzeugt waren, dass es so ein Papier gar nicht gäbe. Tatsächlich haben die Mitgliedsländer in Verfolgung ihrer jeweils eigenen Investitions- und Handelsinteressen in der Regel für sich alleine China-Politik betrieben. Menschenrechte kamen zwar auch vor in den China-Beziehungen, aber ihre Berücksichtigung nahm über die letzten zehn Jahre hinweg insgesamt ab. Heute findet sich nur bei einer Minderheit der EU-Mitgliedsländer die Bereitschaft, Menschenrechtsthemen auch offensiv und öffentlich anzusprechen. Einen Überblick über die differenzierte Landschaft europäischer China-Politiken hat übrigens gerade ein Netzwerk europäischer China-Thinktanks vorgelegt. Zusammen mit Jo Leinen, MdEP, von der SPD hatte ich sie eingeladen, im Europäischen Parlament über die Ergebnisse ihrer Forschungen zu berichten. Das Interesse war riesengroß.
Warum sollte sich die Zersplitterung innerhalb Europas hinsichtlich des Herangehens an Beziehungen mit dieser Supermacht ändern? Ist das überhaupt halbwegs realistisch? Ich glaube schon. Eine solche Veränderung drängt sich angesichts des Wandels innerhalb Chinas und der großen Entwicklungen in Chinas Außenpolitik geradezu auf.
Vorbei ist nämlich die Zeit, in der europäische Regierungen darauf hoffen konnten, ihr Land werde am ehesten im Austausch mit China profitieren, wenn es sich auf Merkantilismus konzentriere und darauf achte, dass Widersprüche aus anderen Bereichen der Politik, insbesondere auch wegen der katastrophalen Entwicklung der Menschenrechte in China, dem insgesamt gedeihlichen wirtschaftlichen Austausch nicht im Wege stehen. Spätestens seitdem China mit seiner Made in China 2025-Politik für alle sichtbar angefangen hat, systematisch Wirtschaftsnationalismus ins Zentrum seiner Entwicklungen zu stellen, die von Deng Xiaoping seit 1978 gepredigte Politik der Öffnung und Reform durch die Ambition zu ersetzen, dass China industrielle Dominanz gewinnen müsse, und seitdem dies unter der Überschrift „One Belt, One Road“ durch eine immer ruppigere Außenpolitik fast in alle Regionen der Welt projiziert wird, hat die chinesische Lieblingsformel von den sogenannten „Win-win“-Lösungen weitgehend ihre Attraktivität verloren. Spötter sagen immer öfter: „Win-win bedeutet, dass China zweimal gewinnt.“ Zuletzt hat der BDI in einem bemerkenswerten China-Strategiepapier, das ich nur zur Lektüre empfehlen kann, eine sehr interessante Neupositionierung vorgenommen. Die lange Zeit dominierende Erwartung, es werde zu einer wirtschaftlichen und politischen Konvergenz mit China kommen, hat man zu Recht verabschiedet. In dem sich nun abzeichnenden Systemwettbewerb wäre allerdings das Festhalten an der von früher gewohnten China-Politik reine Blauäugigkeit, die Fortsetzung der europäischen Zersplitterung wäre für alle Beteiligten gefährlich. In den Beziehungen zwischen der EU samt Mitgliedsländern und China werden wir eine wesentlich erweiterte Themenpalette gemeinsam bearbeiten müssen, wenn wir erfolgreich sein wollen. Vielfältige Ansätze dazu gibt es. Sie systematisch zusammenzuführen, ist die Aufgabe, die ansteht.
In den USA hat übrigens eine fundamentale Kehrtwende in der Politik gegenüber China bereits stattgefunden. Diese erstreckt sich nicht nur auf die Administration Trump oder die republikanische Partei, sondern ist im politischen und wirtschaftlichen Washington weitgehend Konsens. Der Umschwung ist sehr grundsätzlich. Hatte Amerikas Haltung China gegenüber seit Präsident Nixons berühmter Reise nach Peking Anfang der 70er Jahre die Grundmelodie variiert: Zusammenarbeit, wo immer möglich, Kontra geben, wo nötig, so heißt das neue Lied: Kontra geben, wo möglich, Zusammenarbeit, wo nötig. Manche gewichtige Stimmen in der US-Hauptstadt sprechen auch einer Strategie der Abkopplung von China das Wort. Für die Europäer, für die China insgesamt kein weniger wichtiger Handelspartner ist als die USA, erhöht sich durch diese US-amerikanische Neuorientierung der Druck enorm. Ich halte es für ausgeschlossen, dass wir uns einfach den USA anschließen und unterordnen können, wenn wir unsere Werte und Interessen nicht missachten wollen. Aber wer nicht will, dass er von anderen definiert und in seinen Handlungsoptionen bestimmt wird, der muss eben einen realistischen eigenen Horizont aufmachen.
Die Veränderungen, um die wir uns zu kümmern haben, warten nicht. Ich nehme nur ein Beispiel aus dieser Woche: Wir haben im EP über die Verschlechterung der Beziehungen zwischen den USA und Taiwan diskutiert (mein Beitrag ist hier zu finden) . Während Taiwan noch auf das Festhalten an einem bröckelig gewordenen Status quo hofft, ist Beijing dazu übergegangen, diesen von vielen verschiedenen Seiten her und zum Teil recht aggressiv zu verändern. Militarisierung und Aufrüstung in der Straße von Taiwan ist ein Teil davon, ökonomischer Druck auf Taiwan ein anderer. Das Wegkaufen von immer mehr der wenigen verblieben diplomatischen Partner Taiwans kommt dazu. Schließlich verändert Peking auch die Begriffe, in denen es über die Zukunft der Taiwan-Beziehungen redet. In der Vergangenheit beriefen sich Beijing wie die Kuomintang in Taipei auf den „Konsens von 1992“, der von beiden Seiten das Ein-China-Prinzip betonte, aber genug Ambiguität enthielt, um nicht eine der beiden Lesarten verbindlich zu machen. Heute redet Xi Jinping davon, das in Hongkong angewendete Prinzip „Ein Land, zwei Systeme“ auch auf Taiwan zu übertragen. Da gibt es keinerlei Ambiguität mehr. Und um sicherzustellen, dass er ganz gewiss richtig verstanden wird, betonte Xi dann auch, dass die Volksrepublik Taiwan gegebenenfalls mit militärischer Gewalt der eigenen Oberhoheit unterwerfen werde. Ich halte es nicht für klug, wenn, wie dies etliche konservative Kollegen in der EP-Debatte taten, darauf nun mit einer Forderung nach der Unabhängigkeit Taiwans reagiert wird. Das erscheint mir aussichtslos und gießt gewiss Öl ins Feuer. Aber einfach wegsehen und nichts sagen wird offenkundig problematischer.
Deutschland kommt in der China-Debatte eine zentrale Rolle zu, weil kein Land in Europa so eng wirtschaftlich mit China verflochten ist und politisch mit China dermaßen intensiv im Austausch steht. Deutschland muss begreifen, dass es einen besonderen Beitrag leisten muss für eine gemeinsame europäische China-Politik. Solange wir unsere Stärken, die wir gegenüber China ja durchaus haben, nur für unseren eigenen Vorteil zu nutzen trachten, brauchen wir uns kaum wundern, wenn weniger mächtige Länder in Gefahr geraten, chinesischer Spaltungspolitik zum Opfer zu fallen. An der Stelle positioniert sich erfreulicherweise das oben erwähnte Papier des BDI ganz richtig, indem es für eine gemeinsame europäische Politik plädiert.
Ich glaube, auch bei uns Grünen ist eine verstärkte China-Debatte erforderlich. Und ich freue mich, vermehrt Initiativen in diese Richtung zu sehen.
Sonst noch
- Die EU will auch gegen US-Sanktionen am Handel mit dem Iran festhalten. Dazu wird eine neue Zweckgesellschaft gegründet. Die Wirkung wird begrenzt sein. Hier ist meine Pressemitteilung zu finden.
- EU-Kommissarin Malmström stieß im Europäischen Parlament mit ihrem Vorschlag für ein Verhandlungsmandat mit den USA zu transatlantischem Handel auf viel Skepsis. Hier könnt Ihr Euch meinen Redebeitrag anschauen.
- Premierministerin May: Wie ein Zauberer mit Zylinder, aber ohne Kaninchen: Meine Pressemitteilung.
- Am 27. Januar nahm ich an einer Demonstration von Pulse of Europe in Berlin teil. Das Bekenntnis zu Europa hat wieder Konjunktur. Das ist schön! Die nächste Pulse of Europe-Demonstration in Berlin ist am 24. Februar.
- Heute nehme ich als Redner an den Ayinger Gesprächen teil. Im Fokus steht die Frage des Sozialen Europa, auch im Vergleich zu den USA und China.
- Am 07. Februar bin ich beim Neujahrsempfang des Grünen Kreisverbandes Rhein-Hunsrück in Simmern. Ich würde mich freuen, ein paar von Euch dort zu treffen
- Am 08. Februar spreche ich beim Workshop „Kommunal und europäisch für die Zukunft“ der Heinrich-Böll-Stiftung in Stuttgart darüber, wie sich Kommunales und Europa verbinden lassen. Anmeldungen sind noch möglich.