69 Mitglieder des Europaparlaments aus 22 Ländern haben diese Woche gemeinsam in einem offenen Brief an die Bundeskanzlerin die Politik der Bundesregierung zu Nord Stream 2 scharf kritisiert. Insgesamt sind Abgeordnete aus fünf EP-Fraktionen beteiligt: Grüne, Liberale, EVP, Sozialisten und Konservative. Zusammen mit dem litauischen Abgeordneten Petras Auštrevičius hatte ich die Initiative dazu ergriffen. Mitunterschrieben haben auch etliche Abgeordnete des Bundestages und anderer nationaler Parlamente sowie einige Landtagsabgeordnete.
Unsere Grüne Position zu Nord Stream 2 ist seit langem sehr kritisch. Es gibt einfach viel zu viele sehr gute Gründe, dieses Pipeline-Projekt für ganz schlechte Politik zu halten. Die Gründe liegen in den Bereichen Natur- und Meeresschutz, Energiepolitik, Klimapolitik, Wirtschaftspolitik, Sicherheitspolitik, Außenpolitik und Bündnispolitik. Nord Stream 2 verstößt gegen die Grundsätze der europäischen Energieunion. Nord Stream 2 hat sich zu einem gefährlichen Spaltpilz in der EU entwickelt. Nord Stream 2 verletzt das Prinzip europäischer Solidarität zwischen Nachbarn. Lange Zeit hatte die Bundesregierung, allen voran die Kanzlerin, behauptet, es handele sich um ein ganz unpolitisches Projekt, eine reine Geschäftsangelegenheit. Ich glaube kaum, dass von denjenigen, die diese Mär verbreitet haben, irgendjemand je ernsthaft daran glaubte, aber es war eine Ausrede, hinter der man sich verstecken wollte. Die SPD war allerdings nie ganz so schamhaft. Alle ihre Wirtschaftsminister und Außenminister engagierten sich in der Vergangenheit offen für das Vorhaben und Schröder-Gerd schwebte über dem Ganzen als deutsch-russischer Pate. Die SPD hat es seit der Kanzlerschaft Schröders nicht geschafft, eine klare Grenzlinie zu ziehen zwischen der Schröderschen Liebedienerei gegenüber Putin und einer nüchternen, realistischen, wertegeleiteten Interessenpolitik gegenüber Russland, die Kooperationschancen nutzt, aber nicht um den Preis der Kumpanei.
Warum aber hat Merkel keine andere Position eingenommen? Sie scheute sich ja an anderen Stellen durchaus nicht, Russland gegenüber klare Grenzen zu ziehen. Hat sie einfach warten wollen, bis das Problem sich möglicherweise von selbst auf den Weg zu einer Lösung begibt? Hatte sie einfach zu viel sonst zu tun? Wollte sie den Stimmen aus der Wirtschaft zu Gefallen sein, die in fossile Energie aus Russland ganz verliebt sind? Hatte sie einfach keine Lust, mit Sigmar Gabriel und Wladimir Putin und Jürgen Hambrecht von der BASF gleichzeitig Krach zu kriegen? Unterschätzte sie die Dimension des Projekts? Ich weiß es nicht. Aber warum kehrt sie nicht um, wo jetzt deutlich wird, wie sehr sich die Bundesregierung in dieser Frage verrannt hat?
Im Europäischen Parlament ist eine solide Mehrheit gegen Nord Stream 2. Die Kommission ist nach anfänglichem Zögern auch auf einen sehr kritischen Kurs eingeschwenkt. Im europäischen Ministerrat würde Deutschland bei dem Thema noch nicht einmal eine Sperrminorität zusammenkriegen. Im Moment lässt sich Berlin von Wien aus helfen, indem die Österreicher, die auch bei Nord Stream 2 ihre Finger im Spiel haben, als Ratspräsidentschaft schlicht verhindern, dass das Thema auf die Agenda kommt. In internen NATO-Diskussionen war die Mehrheit eindeutig gegen die Pipeline und der US-amerikanische Präsident Trump hat sich in den Kopf gesetzt, er wolle durch Sanktionen verhindern, dass die Pipeline gebaut wird. Hohe deutsche Diplomaten gehen davon aus, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, wann diese Sanktionen kommen und wie viele Sanktionsrunden es geben wird. Das ist schon einigermaßen pervers, dass die Unfähigkeit der deutschen Regierung, ein Problem im Kompromisswege mit dem Nachbarn zu lösen, dem amerikanischen Präsidenten die Gelegenheit verschafft, sich mit Sanktionsmaßnahmen in die europäische Energiepolitik einzumischen und da und dort dafür sogar noch Beifall zu ernten.
Man kann Nord Stream 2 als Sachthema diskutieren. Man kann es als machtpolitisches Spiel analysieren. Man kann es aber auch als Exempel nehmen für die Art von Europapolitik, die eine Bundesregierung sich leistet, die per Amtseid verpflichtet ist, Schaden vom deutschen Volke abzuwenden, und die sich in ihrer Koalitionsvereinbarung mit großer europapolitischer Rhetorik selbst beweihräuchert hat. Man kann nicht nach Solidarität rufen, wenn es um die Frage geht, ob Polen auch Flüchtlinge aufnimmt, und das Solidaritätsgebot vollständig ignorieren, indem man die Interessen der Ostseenachbarn einfach links liegen lässt. Man kann auch nicht auf der einen Seite dafür eintreten, die Ukraine in ihrem schwierigen Bemühen um die Verteidigung ihrer Selbstständigkeit zu unterstützen, und auf der anderen Seite ein Projekt billigen, dessen Hauptmotivation darin liegt, Russland die Möglichkeit zu geben, durch eine Umgehung der Ukraine beim Gasexport die Interessen der Ukraine von denen des europäischen Westens abzutrennen und damit die Ukraine besser unter Druck setzen zu können. Es passt auch nicht zusammen, auf der einen Seite zu beklagen, dass Trump die EU spalten will, und ihm auf der anderen Seite die Gelegenheit zu solcher Spaltung auf dem Präsentierteller zu servieren. Die Europapolitik dieser Bundesregierung hat da weder Hand noch Fuß.
Was da im Argen liegt, kann man auf eine einfache Formel bringen: Deutschlands Politik ist zu eigennützig, um für Europa gut zu sein. Und damit ist sie letztlich auch für Deutschland schlecht. Es ist sicher hart und polemisch, wenn wir in unserem offenen Brief schreiben, die Bundesregierung verfolge eine „Germany first“-Politik. Kann man denn das mit der „America first“-Politik in den USA vergleichen? Aber viele unserer europäischen Nachbarn sehen das leider so. Und Nord Stream 2 ist nicht das einzige Beispiel dafür, dass Deutschland in der Europapolitik durch verbissenes Festhalten an bestimmten ideologisierten Positionen Europa und damit sich selbst schadet. Das gilt meines Erachtens auch mit Blick auf die Eurozone, bei der die Macronschen Vorschläge im Wesentlichen ausgesessen werden. Vielleicht haben wir ja Glück und es kommt keine weitere Finanzkrise. Wenn aber nicht, wird der Schaden aus dieser Halsstarrigkeit unermesslich sein. Die deutsche Kurzsichtigkeit hindert auch das Zustandekommen der notwendigen europäischen Industriepolitik. Zwar hat sich Wirtschaftsminister Altmaier anscheinend inzwischen vom BDI sagen lassen, dass man auch dort, genauso wie bei den Gewerkschaften, entgegen marktliberaler Orthodoxie Industriepolitik für notwendig hält, aber dass diese europäisch formatiert werden muss, wie der BDI oder der Asien-Pazifik-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft ebenso deutlich sagen, das überhört er.
Merkel, die große Kanzlerin, die letzte Vorkämpferin des Westens, habe Europa zusammengehalten und ohne sie gehe es nicht. Das ist ein Refrain, den man seit Jahren fast unablässig gehört hat. Daran ist, das will ich nicht bestreiten, immerhin so viel richtig, dass die Kanzlerin sich im Krisenmanagement durch Nüchternheit, Kühle, Geduld und Hartnäckigkeit auszeichnet. Zu hysterischen Überreaktionen neigt sie gar nicht. Aber wer in der Europapolitik über das bloße Krisenmanagement nicht hinauswächst, wer nicht die Führungskraft aufbringt, an der unvollendeten Architektur Europas stabilisierende Korrekturen anzubringen und neue Felder zu entwickeln, in denen Europäerinnen und Europäer ihre Souveränität gemeinsam wahrnehmen, der wird irgendwann so viele Krisen auf dem Hals haben, dass er ihrer nicht mehr Herr wird.
Merkel muss nicht weitermachen wie bisher. Sie kann sich besinnen. Als sich Schröders politischer Zukunftshorizont 2003 schnell und drastisch zu verändern begann, entschied er sich, das zu tun, was er für das Richtige hielt, und startete die Arbeitsmarktreformen. Es geht hier nicht darum, zu diskutieren, wie richtig die tatsächlich waren. Ich sage es, weil mir auch im Nachhinein noch die Haltung gefällt, mit der er auf die absehbare politische Niederlage nicht mit Fatalismus und Weiter so reagierte, sondern mit dem Versuch, die verbleibende Amtszeit für Reformen zu nutzen. Ich stelle mir vor, Merkel käme zu einer ähnlichen Schlussfolgerung und würde sagen: Der Vorsitz ist weg, das Kanzleramt in absehbarer Zeit auch, meine Dienstzeit geht zu Ende, dann will ich den Rest davon nutzen, um einige Pflöcke einzuschlagen. Sie könnte versuchen, europapolitisch Pflöcke einzuschlagen. Sie könnte an den Stellen, an denen Deutschland sich in ein vergittertes Gehäuse engstirniger Auslegung nationaler Interessen und ideologischer Fixierungen eingesperrt hat, an den Gitterstäben rütteln und rufen: „Ich will hier raus!“ Und eine Europapolitik machen, solange sie noch das Amt dafür hat, die strategisch denkt. Ein erster Schritt wäre an verschiedenen Stellen möglich. Zum Beispiel auch bei Nord Stream 2.
Ich erwarte nicht, dass Merkel das machen wird. Ich glaube es nicht. Und deswegen wird uns die Frau, die Europa so wunderbar zusammengehalten hat, eine große Menge politischer Probleme und Widersprüche vererben, an denen Europa zerreißen kann. Höchste Zeit, dass diese deutsche Europapolitik abgelöst wird. Es lohnt, dafür zu kämpfen, dass wir Grüne dabei eine entscheidende Rolle spielen. Die politische Alternative zwischen den Status quo-Angsthasen und den Leuten mit der antieuropäischen Abrissbirne wäre zu schrecklich, zumal die Bürgerinnen und Bürger gerade dabei sind, wie die Umfragen zeigen, wieder mehr Vertrauen in Europa zu investieren, weil es einen anderen guten Weg für uns alle nicht gibt, und auch dabei sind, wieder mehr für Europa zu demonstrieren, wie zuletzt zu Hunderttausenden in London und Bukarest und Berlin und Warschau.
Bei der kommenden Bundesdelegiertenkonferenz werden wir die Gelegenheit haben, uns als die deutsche Partei für einen europäischen Aufbruch zu präsentieren. Ich nehme schon an, dass Europa zuschauen wird. Da schauen im Moment wirklich viele auf uns. Machen wir ihnen Mut!
Sonst noch
- Hier der offene Brief von Petras Auštrevičius und mir an Bundeskanzlerin Angela Merkel sowie unser Video.
- „In Deutschland ist der Zuspruch zur EU auf dem höchsten Stand seit 1983“ – mein Interview mit der Badischen Zeitung.
- Am 6. November fand der 4. Trilog über den Foreign Direct Investment Screening Mechanism statt. Die Chancen stehen gut, dass es vor dem Ende der Legislaturperiode eine solche Regelung gibt. Mein Video.
- Vom 2. bis 3. November war ich in Jakarta bei der Asien-Pazifik-Konferenz der Deutschen Wirtschaft und diskutierte dort u. a. mit Joe Kaeser (Siemens) über Chinas Belt and Road Strategie und Europas Konnektivitätspolitik. Wir waren hauptsächlich verschiedener Meinung.
- 14 Tage nach der BDK findet vom 23. bis 25. November der Parteitag der Europäischen Grünen statt. Und hier findet Ihr das Programm. Es wäre schön, wenn viele teilnehmen.
- Die kommende Woche ist eine Straßburg-Woche, viele Themen stehen auf der Agenda: Aussprache mit Angela Merkel über die Zukunft Europas, Ansprache des Präsidenten der Republik Südafrika Cyril Ramaphosa, Mehrjähriger Finanzrahmen 2021–2027, Cum-Ex-Skandal und mehr.
- Zum 50. Jahrestag der Invasion der Warschauer Pakt-Gruppen in der Tschechoslowakei hatte ich für den 21. August über 60 Freunde und Bekannte aus über 20 Ländern dafür gewonnen, sich in kurzen Texten zu erinnern. Aus den englischen und deutschen Beiträgen ist seither eine kleine Broschüre entstanden. Sie wird bei der Bundesdelegiertenkonferenz zu haben sein. Wir verschicken sie aber auch auf Nachfrage. Hier sind alle Texte auch online zu finden.