Eine der vielversprechenden europäischen Hoffnungen unserer Tage verbindet sich mit der Entwicklung eines kleinen Landes, dessen Name sein größtes Problem ist. Es geht um Mazedonien. Mazedonien ist der einzige ehemalige Teilstaat Jugoslawiens, der seine Unabhängigkeit ohne kriegerische Auseinandersetzung gewann. Es gibt nicht viele Länder in Europa, in denen die EU so viel Ansehen und Unterstützung genießt, wie in Mazedonien. Doch der angestrebte Weg Mazedoniens in die EU-Staatengemeinschaft ist seit etwa 27 Jahren blockiert. Wegen des Namens.
Um den Namen wird gestritten, weil Namen Ansprüche markieren können. Oder weil Namen an Ansprüche erinnern, die früher unter ihnen erhoben wurden. Im vorliegenden Fall liegt die besonders sensible Zeit 70 Jahre zurück. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, im Griechischen Bürgerkrieg, nutzten die Kommunisten, die den Bürgerkrieg am Ende verloren, die jugoslawische Seite der griechischen Nordgrenze zeitweise als Rückzugsgebiet. Zeitweise scheinen sie auch mit der Verlockung gespielt zu haben, einen Teil des griechischen Nordens, der dort von alters her Mazedonien heißt, mit dem Mazedonien in Titos Reich zu vereinigen. Wunden, die der Bürgerkrieg schlug, sind in Griechenland bis heute keineswegs alle verheilt. Diese Wunde ist besonders sensibel. Das mag auch damit zu tun haben, dass heute noch im ehemaligen jugoslawischen Mazedonien Familien leben, die selbst oder deren Eltern als Kommunisten einst dorthin flohen und natürlich auf der griechischen Seite enge Verwandtschaft haben.
Als Mazedonien seine Unabhängigkeit realisierte, gab es auf griechischer Seite keine Bereitschaft, den Namen der Republik Mazedonien anzuerkennen. Könnte ein solcher Name nicht vielleicht als irredentistischer Ausdruck eines Anspruchs auf Griechenlands Mazedonien gedeutet werden? Auch in Bulgarien, das ebenfalls einen mazedonischen Teil hat, gab es Einwände. Wie viel davon ernsthafte Besorgnis war und wie viel nationalistisch genutzter Hype, kann ich nicht beurteilen, und es ist wohl auch nicht die entscheidende Frage. Entscheidend ist, dass sich an dieser Stelle die Nachbarn verhakten. In die UNO gelangte Mazedonien unter dem schrecklichen Namen FYROM, Former Yugoslav Republic of Macedonia. Gewisse gehässige griechische Stimmen sprachen dann von den Bürgern Mazedoniens als FYROMians und von ihrer Sprache als FYROMian Language. Keine mazedonische Regierung war aber je bereit, den im Lande breit geteilten Wunsch auf einen Beitritt zur EU und ebenso zur NATO unter diesem Namen zu verwirklichen. Deshalb war seit 2001 der Weg nach Europa blockiert. Griechenland wollte Mazedonien nicht, Mazedonien wollte FYROM nicht. Da aber ein Beitrittsprozess nur eingeleitet werden kann, wenn alle Mitgliedstaaten zustimmen, blieb Mazedonien außen vor. 2001 war Mazedonien gegenüber der EU etwa genauso weit vorangekommen wie damals auch Kroatien. Kroatien ist längst Mitglied. Mazedonien wartet immer noch, ob es je eine Chance haben wird, Mitglied zu werden.
Als 2008 Griechenland auch die erhofften Schritte zur NATO-Mitgliedschaft Mazedoniens wegen der Namensfrage blockierte, bewirkte das in Skopje, der Hauptstadt, einen tiefgreifenden Wandel ins Nationalistische. Die Regierungspartei, VMRO-DPMNE, verschärfte diesen Kurs von Jahr zu Jahr. Als authentischer Ahnherr Mazedoniens wurde Alexander der Große ausgemacht. Zahlreiche historisch absurde Ansprüche machten die Runde. Nur, dass er auch schon das slawische Mazedonisch gesprochen habe, wurde meines Wissens nicht behauptet. Alexander der Große hieß der Flughafen. Alexander der Große hieß die Autobahn vom Flughafen nach Skopje. Und mitten in Skopje wurde ein monströses Reiterstandbild Alexanders des Großen errichtet, das einem, wenn man es betrachtet, sofort die Bedeutung des Ausdrucks nationalistischer Größenwahn verständlich macht. Griechenlands Nationalisten, die keineswegs nur auf der Rechten zu finden sind, konnten das natürlich nicht hinnehmen. Die Erregung war dermaßen groß, dass sogar die griechischen Grünen noch vor wenigen Jahren in einer für sie wichtigen Wahl erheblich an Stimmen einbüßten, weil einer ihrer Anführer in der Mazedonien-Frage anscheinend zu viel Verständnis für die andere Seite gezeigt hatte.
In dieser Zeit der Blockade verloren immer mehr junge Menschen in Mazedonien nicht nur die Hoffnung darauf, doch noch einmal die Tür in die EU aufgehen zu sehen, sondern auch das Vertrauen in die Zukunft des eigenen Landes. Die Auswanderungswelle der Jungen nahm sehr große Ausmaße an. Gerade die gut Ausgebildeten gingen in Scharen. Mazedonien wurde zu dem europäischen Land mit der prozentual höchsten Emigration. Die Regierung von VMRO-DPMNE schien sich zum Ende hin daran gar nicht mehr zu stören. Sie nutzte die perspektivisch aussichtslose Lage aus für ihre Wandlung ins Autoritäre. Dabei verschärfte sie auch immer wieder den Widerspruch zwischen der mazedonischen Mehrheit und der albanischen Minderheit. Die Verwerfungen aus dem mit Waffengewalt ausgetragenen Konflikt zwischen Mehrheit und Minderheit im Jahr 2001 konnten so nicht endgültig überwunden werden, obwohl damals eine Formel für das Zusammenleben ausgehandelt worden war. Als dann auch noch Albanien sich auf den Weg zur EU machte, ließ das am Horizont das Schreckgespenst einer großalbanischen Bewegung aufscheinen, die, gespeist aus dem Kalkül, wenigstens auf diese Weise vielleicht doch noch den Weg „nach Europa“ zu finden, Mazedoniens prekären Zusammenhalt zerreißen könnte. Zu allem Überfluss fingen dann Russland und, weniger offensichtlich, China auch noch an, nach Chancen der Einmischung zu suchen, die sich aus der Sackgassensituation Mazedoniens anbieten konnten.
Der nach einer schweren innenpolitischen Krise, die nur unter intensiver Vermittlung der EU überwunden werden konnte, zustande gekommene Wahlsieg der sozialdemokratischen SDSM-Partei von Zoran Zaev Ende 2016 schuf die Bedingungen für eine fundamentale Änderung der Lage. VMRO-DPMNE hatte sich so weitgehend durch Korruption und autoritären Nationalismus diskreditiert, dass eine, wenn auch knappe, Mehrheit der Bevölkerung bereit war, einen neuen Weg einzuschlagen. Übrigens spielte bei diesem Übergang die mazedonische DOM-Partei, sozusagen unsere grüne Schwesterpartei in Mazedonien, eine wichtige Rolle. Sie hatten einige Jahre lang die Regierung von VMRO-DPMNE unterstützt, hatten aber 2016 diese nach gründlicher parteiinterner Diskussion wegen der Vergehen gegen die Rechtsstaatlichkeit und anderer Verfehlungen sowie wegen gebrochener Versprechen verlassen und dadurch um ihre Mehrheit im Parlament gebracht. Von vielen NGOs war DOM trotz ihres Eintretens für Umweltanliegen, für Frauenpolitik oder auch für LGBTIQ-Fragen immer stärker kritisiert worden, solange sie mit VMRO-DPMNE nicht definitiv gebrochen hatten. Für diesen Schritt gewannen sie dann aber sehr hohe Anerkennung, weil, wie mir viele Gesprächspartner bestätigten, sie damit ein erhebliches politisches Risiko eingingen, vor dem sich viele andere kleine Parteien trotz Kritik an der Regierung scheuten. DOM unterstützte in der Wahl die neue Mehrheit um Zoran Zaev. Sie haben heute zwei Mitglieder im mazedonischen Parlament und eine Staatssekretärin im Umweltministerium. Viele Ziele, für die sie lange gekämpft hatten, wie z. B. die Ratifizierung der Istanbul-Konvention oder des Pariser Klimaabkommens oder auch Gesetzgebung über urbane Grünflächen und andere ökologische Anliegen, konnten sie mit der neuen Mehrheit realisieren.
Zoran Zaev entschied sich früh dafür, als guter Mazedone den Gordischen Knoten der Namensfrage zu zerschlagen. Ohne Klärung der Namensfrage keine Verständigung mit Griechenland; ohne Verständigung mit Griechenland keine Hoffnung auf EU-Beitritt und NATO-Beitritt; ohne die Öffnung der Tür nach Westen keine Stabilisierung der sicherheitspolitischen Lage und kein Ausbruch aus der verbarrikadierten Sackgassensituation.
Zoran Zaev verstand es, sich zunächst mit Bulgarien auszugleichen und damit einen Befürworter innerhalb der EU zu gewinnen. Gleichzeitig signalisierte er den Willen zur Verständigung mit Griechenland und fand in Alexis Tsipras einen Partner. Am 17. Juni 2018 unterzeichneten die Außenminister beider Seiten ein Abkommen, in dem Mazedonien erhebliche Zugeständnisse machte. Das Land soll in Zukunft den Namen Republik Nord-Mazedonien tragen und diesen Namen nicht nur nach außen benutzen, sondern auch in der eigenen Verfassung verankern. Griechenland hinwiederum gestand zu, dass eben doch Mazedonen nördlich seiner Grenze leben und nicht FYROMians, und dass die auch Mazedonisch sprechen. Feierlich erklärten beide Seiten zudem, keinerlei Ansprüche gegeneinander zu erheben, und Griechenland versprach, den Weg für eine künftige Aufnahme von Beitrittsverhandlungen durch die Ratifizierung des Abkommens freizumachen, sobald die mazedonische Verfassung verbindlich geändert wäre. Die mazedonische Regierung, der im 120 Mitglieder umfassenden Parlament elf Stimmen fehlen zu der für eine Verfassungsänderung erforderlichen Zweidrittelmehrheit, entschied sich für den Weg eines Referendums. Sie hofft, dass ein erfolgreiches Referendum so viel Legitimität schaffen wird, dass sich die mindestens erforderlichen elf Stimmen danach im Parlament finden lassen. Die bürgerlich-nationalistische Opposition in Griechenland läuft Sturm gegen Tsipras und die nationalistische Opposition in Mazedonien läuft Sturm gegen Zaev. Beide haben mit dem Abkommen erheblichen Mut gezeigt, denn keiner von beiden kann völlig sicher sein, dass die Rechnung aufgeht. Beim Referendum in Mazedonien müssen, damit es Gültigkeit hat, mehr als 50 % der Bürgerinnen und Bürger sich beteiligen. Im albanischen Bevölkerungsteil ist das Abkommen populär. In der Mehrheitsbevölkerung ist die Stimmung nicht wirklich entschieden. Die offizielle Linie der Opposition ruft zum Boykott. Einige weniger bekannte Vertreter der Opposition signalisieren allerdings vorsichtige Unterstützung. Die Abstimmungsfrage im Referendum wurde so formuliert, dass die Bürgerinnen und Bürger entscheiden sollen, ob sie, um in die EU und die NATO zu gelangen, dem Abkommen zustimmen. 80 % der Bevölkerung wollen in die EU. Aber werden sie den unabdingbaren Preis zahlen?
Ich habe letzte Woche Skopje besucht, mit DOM eine Veranstaltung durchgeführt, mit Zoran Zaev und mit dem Parlamentspräsidenten, einem Albaner, und mit den Medien gesprochen, um klar zu signalisieren, dass wir europäischen Grünen den von Zaev und Tsipras eingeschlagenen Weg ebenso wie DOM unterstützen. Die sozialdemokratische europäische Parteifamilie und die Liberalen tun das auch und für die EVP-Familie hat deren Vizepräsident David McAllister diese Woche im Auswärtigen Ausschuss des Europäischen Parlaments erklärt, auch sie seien, anders als VMRO-DPMNE, für das Abkommen. Es gibt aktuell etliche Spekulationen darüber, ob vielleicht Angela Merkel noch vor dem Referendum, das für den letzten Septembertag terminiert ist, nach Skopje fahren wird, um ebenfalls ihre Unterstützung zu demonstrieren. Im Europäischen Parlament hat unsere Fraktion gerade eine Initiative gestartet mit dem Ziel, dass in der September-Straßburg-Woche neben Premierminister Tsipras, dessen Rede im EP schon lange geplant ist, auch Premierminister Zaev eingeladen werden soll, um zu sprechen.
Gelingt dieser Weg, dann hat das positive Auswirkungen nicht nur für Mazedonien und seine unmittelbaren Nachbarn, sondern für den ganzen Westbalkan und für die ganze EU. Wo Stillstand zum Morast geworden war, aus dem giftige Dämpfe hervorblubberten, kann die Überwindung der Blockade Bewegung generieren, die weit über den unmittelbaren Anlass hinaus Hoffnung entstehen lässt. Dass die EU bei ihrem letzen Gipfel das Athen-Skopje-Abkommen zwar begrüßte, bei der Frage einer möglichen künftigen EU-Mitgliedschaft Mazedoniens aber nicht zuletzt wegen französischer Bedenken merkwürdig unentschlossen blieb, war nicht hilfreich. Da war die NATO klarer, die Mazedonien zur Mitgliedschaft eingeladen hat. Doch die Zögerlichkeit kann überwunden werden. Wir deutschen Grünen sagen im Entwurf unseres Europawahlprogramms übrigens, dass wir wollen, dass die EU beim nächsten Gipfel, der sich mit diesem Thema befasst, Mazedonien einen festen Termin für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen in Aussicht stellt.
Nicht vergessen werden sollte, wie Russland auf das Abkommen reagierte. Der russische Außenminister wandte sich zunächst an die nationalistische Opposition Mazedoniens, um diese dagegen heiß zu machen. Als sie nicht ganz so heftig agierte, wie er sich das offenbar gewünscht hatte, wandte er sich an nationalistische Kräfte in Griechenland, insbesondere im Umfeld der griechischen orthodoxen Kirche in Nordgriechenland. Dafür fing sich Russland eine scharfe Reaktion der griechischen Regierung ein, die russische Diplomaten wegen der Einmischung in innere griechische Angelegenheiten des Landes verwies. Der mazedonische Außenminister sagte diese Woche im Europäischen Parlament, manche Länder seien leider nicht an der Lösung von Problemen interessiert, sondern an deren Verlängerung. Russland wurde nicht genannt, aber alle wussten, von welchem Land er sprach. Für Europa ist das lehrreich und natürlich ein zusätzlicher guter Grund, zu hoffen, dass Zaev und Tsipras am Ende erfolgreich sein werden. Gelingt das, dann kann man sie meinetwegen für den Friedensnobelpreis vorschlagen.
Als ich Skopje letzte Woche wieder verließ, sagte ich zu Liljana Popovska von DOM: Mazedonien könnte doch vielleicht das hässliche Alexander-Standbild nach Griechenland verschenken, um sinnfällig zu demonstrieren, dass es seine Zukunft nicht mehr im vierten vorchristlichen Jahrhundert sucht, sondern im 21. Liljana lachte: „Dann wären wir das scheußliche Ding los“, sagte sie, „aber wir können es nicht machen, denn das Monstrum können wir den Griechen, die doch nun unsere Freunde werden, wirklich nicht zumuten.“
Sonst noch
- Welche Zeichen können wir noch setzen vor der Europawahl 2019? Mein Video zur zweiten Jahreshälfte.
- Der Deutschlandfunk hat einen Beitrag zur gemeinsamen europäischen Forschungspolitik herausgebracht. Auch ich werde dort zitiert.
- Meinen Leser-Brief in der FAZ zum Artikel „Lieber Chinesen als amerikanische Hedgefonds“ (F.A.Z. vom 4. August) von Uwe Marx könnt Ihr hier nachlesen.
- Gestern war Bingen eine Reise wert: Dort sprach ich unter anderem neben Ministerin Ulrike Höfken beim 21. Energietag Rheinland-Pfalz.
- Die Pressemitteilung von Monica Frassoni und mir zum Verbot von Italiens Innenminister Salvini, die Flüchtlinge des Rettungsschiffes Diciotti von Bord gehen zu lassen, ist hier zu finden.
- NPR, das National Public Radio aus den USA, hat mich zu Nord Stream 2 interviewt. Den Link liefern wir nach.