Wir waren fassungslos als wir die Nachricht erhielten, hingen am Fernseher und sahen die Bilder. Das war bitterer Ernst.
Ein paar Wochen zuvor noch waren wir ein Wochenende in Prag gewesen, zu fünft mit dem kleinen VW. Prag war doch erstaunlich nah, fand ich.
Eine Stimmung in der ganzen Stadt wie Ferien, Volksfest oder Revolution oder sowas, alles in Bewegung, alle jung und alle redeten mit uns, miteinander, zu einander – in welcher Sprache eigentlich?
Worüber eigentlich? – über alles – ich zum erstenmal in Prag und überall Gleichgesinnte, junge Leute, Studenten wie wir, alles im Aufbruch, keiner wusste so recht wohin, doch, ich, ich war in eine der mitreisenden Genossinnen verliebt.
Wir kamen im Hotel Europa unter, am Wenzelsplatz, Jugendstil, verstaubt und voll mit jungen Leuten aus aller Welt.
Eine Demo gabs nachmittags auch, in der Innenstadt, irgendwofür oder wogegen, weiss ich nicht mehr, nur wie organisiert, diszipliniert und fast martialisch die waren, da hab ich gestaunt, vielleicht hatten die das ja im Sozialismus gelernt …. wenn wir so den Kudamm runterdemonstrieren würden, dann kriegten die Leute aber Angst – nix mit „kommt herunter vom Balkon / unterstützt den Vietcog“ und sowas: das war da plötzlich bitterer Ernst im Frühling in Prag.
Als die Nachricht von den Panzern kam, sind wir, 300 oder 400 Studenten spontan zur tschechoslowakischen Militärmission demonstriert, das war Tschechiens einzige Vertretung in Berlin, und haben zornig, empört, chaotisch, frustriert usw. die Fäuste geschüttelt: im Frühling in Prag, das waren doch alles unsere Leute, unsere Genossen, gegen die jetzt die Panzer fuhren…
In den nächsten Tagen gab es plötzlich Diskussionen in der Universität, die mich sehr verstört haben. Sowas kannte ich noch nicht. Es ging vom SDS aus, und es wurde immer lauter und strenger diskutiert, dass in Prag doch eigentlich die Konterrevolution am Werk gewesen sei, die Sowjetunion sich zu Recht gegen die CIA-Unterwanderung und die antisozialistische Elemente in Prag wehren würden usw. Wir mit unserer spontanen Reaktion wären mal wieder kleinbürgerlich vorschnell gewesen, man müsse das erst genauer analysieren. Das hat mich verunsichert, verstört: die waren doch alle so offen und so nett zu uns, so aufgeweckt und hoffnungsfroh sozialistisch, so sollte die Revolution doch mal sein und es war so angenehm deutlich gewesen, wer gut war und so sichtbar, wer böse – aber offenbar war ich viel zu verliebt gewesen für die Analyse der Prager Konterrevolution.
Tom Koenigs (1974), Die Grünen.