Mein politisches Erwachen? Nein, nicht der Prager Frühling. Dafür war ich zu jung, nämlich acht. Aber ich erinnere mich noch gut, wie ich mich 10 Jahre später fragte, eben volljährig geworden und mit Abitur ins Leben entlassen, warum sich wohl dieser Jan Pallach, ein junger Mensch wie ich selbst, warum dieser junge Mann sich angezündet hatte? Was gab es denn für einen Grund, sein Leben wegzuwerfen um einer politischen Botschaft willen?
Mir ging es damals gut, so gut wie den meisten in der deutschen Westrepublik. Ich nahm ein Studium auf, in einer beschaulichen Stadt mit hoher Lebensqualität. Mildes Klima, guter Wein, tolle Skiberge. Sicher, es gab vieles auszusetzen, politisch gesehen. Der saure Regen und das Waldsterben, das geplante Kernkraftwerk auf der anderen Seite des Flusses, auch das drohende Wettrüsten. Wir protestierten gegen dies und gegen das, eine Aktion hier, ein Happening da. Aber eine Selbstanzündung, ein Selbstmord als Fanal, das war anders; das war verzweifelter, existentieller. Nur langsam begann ich zu verstehen: wir konnten uns unsere Proteste erlauben. Die Polizei, die wir zu verachten vorgaben, war dazu da, uns unseren Protest zu ermöglichen.
Der Tod des Jan Pallach, die Lektüre über den Prager Frühlings, sie haben mich hingeführt zu dem, was mein eigenes politisches Erwachen wurde, die Reisen nach Osten, die Augenzeugenschaft bei der Unterdrückung der Gewerkschaft Solidarność in Polen. Die Tschechen und die Polen haben mir in ihrem Kampf gegen Unfreiheit und Unterdrückung etwas Fundamentales beigebracht, das ich im Westen nicht gelernt hatte.
Wahrscheinlich ist die größte Leistung der Nachkriegsdeutschen Artikel 1 des Grundgesetzes, nämlich einen Staat geschaffen zu haben, der seine Legitimität aus dem Schutz der Würde des Einzelnen bezieht. Und die Möglichkeit, diese Leistung zu erbringen, war uns auch noch geschenkt worden. Jan Pallach hatte das existenzielle Pech, in einem Staat aufzuwachsen, in dem er diese Würde nur erhalten konnte, indem er sich anzündete.
Thomas Kleine-Brockhoff, geboren 1960, leitet das Berliner Büro und das Europaprogramm des German Marshall Fund. 2013-2017 war er Leiter des Planungs- und Redenstabes im Bundespräsidialamt.