No. XLVII Jens Siegert, Deutschland

Bei 1968 fallen mir gleich ganz viele Weltregionen ein: Die Student/innen in Paris und Berlin natürlich, Anti-Vietnam-Proteste und Black-Power-Movement in den USA, der Prager Frühling und sein jähes Ende unter sowjetischen Panzerketten, die Demonstration der Sieben auf dem Roten Platz in Moskau. Der Nachkrieg im Westen war zu Ende und im Osten deutet sich das, wenn auch zähe Ende des Stalinismus an. In der Rückschau sieht es so aus, als ob im Westen die rund um 1068 beschleunigte Modernisierungsreise, die, grob gesagt, die Herrschaftsverhältnisse zwischen Staat und Individuum mehr und wichtiger vielleicht noch zwischen Frauen und Männern zum Tanzen gebracht hat (ein Tanz, der bis heute andauert) zu mehr Demokratie geführt hat. Im (damaligen) “Osten” Europas war 1968 der Asphalt, unter dem breschnewsche, also schon nicht mehr stalinistische Sowjetunion jeder eigensinnigen Regung, jeder Regung von Eigensinn, das wachsen verwehrte. Doch heute weiß ich, dass das täuscht. 1968 war die Generalprobe für die Selbstbefreiung der unter sowjetischen Joch lebenden Völker. Und die Menschen in der Tschechoslowakei haben den vielleicht größten Anteil daran, dass ihnen mit 20-jähriger Verspätung gelang, wofür sie aber auch den wohl größten Preis gezahlt haben. Mir war das lange nicht klar. Ich sah den Westen. Ich sah den Beginn der Dissidentenbewegung in der Sowjetunion, die Demonstration der Sieben, die gegen den sowjetischen Einmarsch in der Tschechoslowakei protestierten. Aber erst in diesem Frühjahr bei einer Konferenz zu 1968 in Ost und West, in Moskau habe ich verstanden, wie tief die Wunden dort selbst waren. Sie sind bis heute nicht geheilt.

Jens Siegert, geboren 1960, leitete bis 2015 das Büro der HBS in Moskau. Er wohnt weiterhin dort und bloggt regelmäßig unter http://russland.boellblog.org.