Gedanken zum 21. August 1968
Mit den vielen Debatten und Fragen, die sich für mich als Mitglied in der SED wie für so viele Bürgerinnen und Bürger 1989/90 nach dem Warum des Zusammenbruchs des realsozialistischen Systems in der DDR und vorher und nachher in allen Ländern des ehemaligen „Sowjetblocks“, nach dessen Ursachen und dem „Wie Weiter“ und ob einer sozialistischen Perspektive ergaben und die in den Mittelpunkt des persönlichen und politischen Lebens drängten, kam die intensive Diskussion über den Prager Frühling von 1968 und vor allem die Fragestellung: was und wie soll demokratischer Sozialismus aussehen, ist er noch möglich in der Noch-DDR?
Als Kind bzw. gerade Jugendlicher hatte ich von den dramatischen Ereignissen jener Augusttage selbst nicht viel mitbekommen – geschweige denn die Tragweite des militärischen Einmarsches von Truppen des Warschauer Vertrages, des “Bollwerks gegen den imperialistischen Feind“ begriffen.
Meine politische Sozialisation erfolgte mit dem Vietnam-Krieg, mit der Solidaritätskampagne mit Angela Davis und vor allem mit dem Sieg des chilenischen Präsidenten S. Allende und seines gewaltsamen Sturzes durch den Pinochet-Putsch. Prag war – schon – Geschichte, wenn auch jüngste, und war eingeordnet in Schule und Studium in die Block-Konfrontation, ein Merkzeichen des Kalten Krieges. Aber auch wir hatten im Studium hitzige Debatten darüber, wie eine bzw. die, unsere sozialistische Gesellschaft auszusehen habe. Darüber, dass sie ohne aktive freiheitliche Mitgestaltung durch die Bürgerinnen und Bürger unserer Länder nicht erfolgreich aufgebaut werden konnte. Wir diskutierten Voraussetzungen und notwendige Eckpfeiler der sozialistischen Gesellschaft und vor allem auch, dass erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung die freie Entfaltung eines jeden brauche. Aber es war in Bezug auf das nach 1968 in der CSSR theoretisch, denn die Realität in der CSSR hatte sich in vielem der der anderen realsozialistischen Gesellschaften angenähert – und unsere Kommilitonen aus Prag, Brno, Banska-Bystrica hatten ihre Sozialisation auch nach 1968 erfahren.
Dann kamen Polen und Solidarnosz, es kam Gorbatschow in der UdSSR, das Sputnikverbot in der DDR und dann 1989. Sicherlich die bitterste Niederlage des DDR-Versuchs, eine neue, sozialistische Gesellschaft nach der Hitler-Tyrannei auf deutschem Boden aufzubauen, aber im Nachhinein eine Sternstunde programmatischer Selbsterneuerung linker Partei(en) und die ehrliche Bestandsaufnahme: Sozialismus muss demokratisch sein, oder er ist nicht.
Nicht zufällig vielleicht, dass heute, in diesen Tagen der erneuten, dringlichen und tiefgründigen Fragestellung nach einer menschlichen Gesellschaft, nach Solidarität mit den Ärmsten auf allen Kontinenten, mit Kindern und Frauen und Männern, die in unseren materiell reichen Gesellschaften in der EU Hoffnung auf menschliches Zusammenleben und freiheitliche Gestaltung ihres Lebens erwarten, so wenig über die gesellschaftlichen, politischen Vorhaben des Alexander Dubcek und der Visionen und konkreten Pläne eines O. Sik und der anderen, reformsozialistischen Aktivisten des Prager Frühlings geschrieben wird. Ja, Geschichte ist immer konkret, nutzen wir deshalb unsere Erfahrungen, Erkenntnisse und Lehren, auch des Augusts 68 in der CSSR und anderswo, für die Neuausrichtung von Politik und Wirtschaft, für die gesellschaftliche Fortentwicklung der vor so massiven Herausforderungen stehenden Welt. Dafür ist es noch nicht zu spät.
Helmut Scholz, MdEP, Mitglied in den Ausschüssen für Internationalen Handel (INTA) und für Konstitutionelle Angelegenheiten (AFCO). Aufgewachsen in der DDR, Studium am Moskauer Staatl. Institut für Internationale Beziehungen (1974-1980), Arbeit im Außenministerium der DDR (1980 – 1987), danach in der Abteilung Intern. Beziehungen des ZK der SED.