Per Anhalter durch Nordafrika, und plötzlich fragt unser Fahrer, ob wir die Nachrichten aus der Tschechoslowakei gehört haben. Haben wir nicht; aber am Abend entstehen drei Tagebuchseiten, aus denen noch heute Schock und Entsetzen sprechen. Es war ja 1968, das Jahr, in dem der „rote Dany“ von der Sorbonne uns in Frankfurt beibrachte, die Fantasie komme an die Macht. Und in Prag nun Ohnmacht, nur Ohnmacht? Was wir in Alexander Dubceks „Kommunismus mit menschlichem Antlitz“ zu erkennen glaubten, war die gleiche Leichtigkeit, Ironie und Entschlossenheit, die wir unserem eigenen Versuch zuschrieben, die verkrusteten Verhältnisse in Deutschland zum Tanzen zu bringen. Nun lernten wir aus dem langsamen, quälenden Verbleichen des bunten Prager Frühlings und von den nach Deutschland strömenden Flüchtlingen: Weder Verhältnisse noch Menschen tanzen, wenn sie Panzern gegenüberstehen. Dubcek wurde nach Moskau entführt. Militärische Gewalt entpuppte sich als mächtiger als jede Fantasie. Das erlebten in späteren Jahren auch andere, die mit Begeisterung und Idealismus gegen Unterdrückung und Diktaturen aufbegehrten: Die Chinesen auf dem Tiananmen-Platz, die Ägypter auf dem Tahrir-Platz, Syrer und Libyer nach dem Arabischen Frühling, alle bezahlten mit Blut und Tod. Doch die Tschechoslowaken lehrten die Welt mehr. Sie bewahrten unzählige Menschen vor Tod und Verfolgung, als sie sich für den jahrelangen gewaltlosen Widerstand entschieden. 1968 in der Tschechoslowakei ist auch eine Lehre in politischer Reife, ja Weisheit. Und das Ende des Sowjetimperiums ist bekannt.
Dr. Volker Stanzel, geboren 1948, ehemaliger deutscher Diplomat, ist Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik und unterrichtet an der Hertie School of Governance.