Eigentlich wollte ich schon vor zwei Jahren zum ersten Mal Taiwan besuchen. Das Programm lag vor, dann brachte der Erfolg der Brexiteers beim britischen Referendum den Brüsseler Kalender so durcheinander, dass diese Fernostreise aufgeschoben werden musste. Jetzt war es dann so weit. Zusammen mit EVP- und S&D-Kollegen aus dem Europäischen Parlament besuchte ich Taipeh.
Wir kamen in ein Land, das sich seiner Perspektive nicht gewiss ist. Der Ausdruck, der in unseren zahlreichen, zum Teil hochrangigen Gesprächen am meisten fiel, war „Status quo“. Fast alle schworen auf den Status quo, von der Präsidentin Tsai an abwärts. Status quo war die Parole nicht nur bei der Regierungspartei DPP, sondern auch bei der oppositionellen Kuomintang. Dabei unterliegt Taiwans Status quo massiven Veränderungen.
Die Volksrepublik China hat Taiwan gerade erst wieder einige diplomatische Verbündete abgejagt – oder vielleicht abgekauft. Taiwans Beteiligungsmöglichkeiten an internationalen Organisationen wie der WHO sind in den letzten Jahren geschrumpft, seitdem Beijing 2016 auf den Wahlsieg der DPP mit der Anlegung härterer Bandagen reagierte. Präsidentin Tsai hatte sich damals geweigert, ein Bekenntnis abzulegen zu einem 1992 einmal zwischen Taipeh und Beijing verabredeten Formelkompromiss zur Frage, wer eigentlich das eine China sei, das zu sein beide Seiten seit Ende des Bürgerkrieges 1949 behaupten. Zur Strafe fror die Volksrepublik so gut wie sämtliche Gesprächskontakte ein, doch dabei blieb es nicht.
Die Bemühungen darum, Taiwan international maximal zu isolieren, die noch weiter andauern, wurden kombiniert mit erhöhtem militärischem Druck durch verstärkte Manöver, mit einer Verschärfung der Forderungen an Taipeh (Die Rückkehr der DPP zum „Konsens von 1992“ würde schon nicht mehr reichen!) und mit dem Versuch, Taiwans Abhängigkeit vom chinesischen Markt auszunutzen. Wenn man noch dazu nimmt, dass Chinas Militarisierung des Südchinesischen Meeres Taiwans Sicherheit massiv berührt und dass Präsident Trumps Unberechenbarkeit in seiner Asienpolitik das Gewicht der USA in dem Raum in bemerkenswerter Weise schwächt, dann erscheint die Berufung auf den Status quo, die wir so oft hörten, bestenfalls als Pfeifen im Walde.
Die DPP war 2016 nicht als Partei des Status quo erfolgreich gewesen, sondern als Partei, die auf vielen Gebieten Erneuerung versprach: in der Wirtschaft, im Sozialen, in der Energiepolitik, in der Gesellschaftspolitik. Die Erfolge halten sich in Grenzen. Die Regierung hat keine guten Umfragewerte. Der Versuch, mit Arbeitsmarktreformen Arbeitnehmer*innen-Interessen zu stärken, musste wegen massiven Widerstandes der Wirtschaft abgebrochen werden. Der Atomausstieg bis 2025 wird zwar noch propagiert, wie auch die Förderung erneuerbarer Energien, aber ein europäischer Kommentator beschrieb die Lage mit dem Satz: „Die Regierung hätte gern 50 % erneuerbare Energie, der Wirtschaft reichen 5 %.“ Einen Veränderungsdruck in der Wirtschaft gibt es auch deswegen nicht, weil die Regierung die niedrigsten Energiepreise der Welt gewährleistet, um die Halbleiterindustrie und anderes produzierendes Gewerbe zu bedienen. Der Versuch, die Homo-Ehe durchzusetzen, scheiterte im ersten Anlauf an rechtlichen Hürden. Grüne, mit denen ich sprach, hoffen, dass ein zweiter Anlauf noch kommt.
Nur in einer Hinsicht scheint die Regierung gewisse Teilerfolge zu erzielen: indem sie die Wirtschaftsbeziehungen zu ASEAN-Ländern oder auch zu Indien ausbaut. Doch der Anteil Chinas an Taiwans Exporten liegt nach wie vor bei etwa 40 %. Und an der wirtschaftlichen Front hat sich Beijing interessanterweise entschieden, auf Pull-Faktoren zu setzen, um die Balance zu den eigenen Gunsten zu verändern. Zehntausende junge taiwanesische Hochschulabsolventen werden von China systematisch mit dem Angebot umworben, auf dem Festland drei-, vier- oder fünfmal so hohe Gehälter zu bekommen als in Taiwan selbst. Taiwans Lohnniveau ist erbärmlich niedrig. Viele junge Leute finden deshalb diese Angebote offenbar attraktiv, selbst wenn sie vielleicht die freiere Atmosphäre ihrer eigenen Insel dem Autoritarismus der KP Chinas vorziehen. Umfragen sagen, das Image des Festlandes in Taiwan werde besser.
Die Kuomintang ist der Meinung, sie habe in den letzten acht Jahren ihrer Regierungszeit alles richtig gemacht, auch wenn sie danach die Wahl hochkant verlor. Neue Ideen sind von dort offenkundig nicht zu erwarten. Ein europäischer Beobachter brachte das so auf den Punkt: „Falls die Kuomintang wieder an die Regierung kommt, ist Schluss mit den Versuchen sozialerer Politik oder ökologischen Ansätzen oder moderner Gesellschaftspolitik oder aktivem Eintreten für Menschenrechte. Dann geht es nur um Big Business, Big Business, Big Business.“ Von der anderen Seite her gibt es zwei Sorten von Opposition. Innerhalb der DPP macht der Flügel verstärkten Druck, der in Richtung offene Unabhängigkeitsbestrebung zielt. Der taiwanesische Mainstream, zu dem Präsidentin Tsai gehört, fürchtet allerdings, dass ein solcher Kurs zu einer massiven Eskalation im Konflikt mit dem Festland führen würde. Eine zweite Art von Opposition habe ich von den taiwanesischen Grünen gehört, die in den für Herbst anstehenden Kommunalwahlen zusammen mit einer sozialdemokratischen und einer radikalen Partei insgesamt fünfzehn Gemeinderatskandidaten aufstellen. Sie versuchen, eine soziale, ökologisch und gesellschaftlich progressive Opposition zu formulieren, statt sich an der nationalen Frage festzubeißen. Sie sind jung, gebildet, engagiert, ernsthaft, haben aktive Frauen und die ersten bekennenden Schwulen in ihren Reihen, aber sie sind noch schwach.
Für die von der Kuomintang wie von der KP Chinas propagierte Wiedervereinigung mit dem Festland ist nur ein kleiner Teil der Bevölkerung. Für offenes Unabhängigkeitsstreben desgleichen. Zunehmend allerdings entwickeln die Menschen ein Selbstverständnis als Taiwaner und nicht als Chinesen.
Am belämmerndsten waren die Gespräche mit Vertretern der Thinktanks der beiden großen Parteien. Die fühlten sich – Status quo! – in der Fortschreibung ihres Antagonismus und ihrer jeweiligen Dogmen beängstigend wohl. Aktuell könnte die große Kluft zwischen den zwei Hauptparteien übrigens durch eine Regierungspolitik sehr verschärft werden, die unter der Überschrift „Transitional Justice“ firmiert. Dabei gehe es um die Beseitigung von Ungerechtigkeiten in der Zeit, in der die Kuomintang herrschte, und um deren Bereicherung an Staatsvermögen, sagen die einen; es gehe um Rache und den Versuch, die Opposition juristisch zu erledigen, sagen die anderen.
Taiwans Lage ist nicht stabil. So viel ist gewiss. Taiwans Perspektiven sind nicht leicht auszumachen. Ein Vertreter des American Institute in Taiwan, einer Art Quasi-Botschaft der USA, sagte dazu: „Beide Extremlösungen, Unabhängigkeit oder Wiedervereinigung, sind unpopulär. Nun wünschen sich die meisten, möglichst lange an dem festhalten zu können, was in der Vergangenheit galt, in der Hoffnung, dass sich irgendwann in der Zukunft überraschend eine gute Option bietet.“
Währenddessen wächst das Gewicht und der Einfluss der Volksrepublik China.
Chinas Weg bei der Verfolgung des von Xi Jinping vorgegebenen Chinesischen Traumes, man kann auch nüchtern sagen: auf dem Weg zur Supermacht, ist allerdings auch nicht ohne Windungen und Wendungen. Pekings Appetit war sehr groß in letzter Zeit, vielleicht ein bisschen zu groß. Nun sucht die chinesische Regierung unter anderem nach Möglichkeiten, die Partnerschaft mit Europa zu verstärken. Beim EU-China-Gipfel konnte man das durchaus sehen. China machte der EU gewisse Zugeständnisse, an denen deutlich wird, dass die EU in der Beziehung zu China wichtige Hebel besitzt und keineswegs ohne Einfluss ist. Und Trumps Konfrontationskurs lässt die EU-Rolle wichtiger werden. Man kann spekulieren, ob die langen und hartnäckigen Bemühungen der Bundesregierung um die Freilassung von Liu Xia, der Frau des verstorbenen Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo, auch erfolgreich gewesen wären, wenn Peking nicht Trump im Nacken gehabt hätte. Es wird spannend sein, zu verfolgen, was die EU aus der Situation macht.
Eine aktive Taiwanpolitik hat die EU nicht und wahrscheinlich wäre es zu viel verlangt, eine einzufordern. Allerdings hat die EU in der Vergangenheit immer wieder betont, dass sie im Rahmen ihrer eigenen Ein-China-Politik nur eine friedliche Wiedervereinigung Chinas akzeptieren wird. Dem Grundsatz ab und zu Nachdruck zu verleihen, kann gerade in der unübersichtlichen Lage, in der sich Asiens Gewichte zugunsten Chinas verschieben, nicht falsch sein.
Sonst noch
- Die Co-Vorsitzenden der türkischen Grünen haben das militärische Vorgehen der Türkei in Syrien kritisiert. Dafür wurden sie unter anderem wegen „Propaganda für eine Terrororganisation“ angeklagt. Ihnen drohen bis zu acht Jahre Haft. Das Urteil soll am 16.01.2019 verkündet werden. Die Pressemitteilungen dazu könnt Ihr hier und hier nachlesen.
- Die irischen Grünen haben einen Präzedenzfall in der Regulierung politischer Online-Werbung geschaffen. Die Pressemitteilung von Eamon Ryan, Monica Frassoni und mir ist hier zu finden.
- Meine Pressemitteilung zur Jean-Claude Junckers Besuch in Washington am Mittwoch ist hier zu finden.
- Dies ist die letzte Bütis Woche vor meiner Sommerpause. Ich melde mich wieder gegen Ende August. Ich wünsche allen einen schönen Sommer.