#99 Bütis Woche: Warum Nord Stream 2 nicht gebaut wird

Ich habe nicht extra nachgeschaut, wie lange ich schon gegen den Bau von Nord Stream 2, der russischen Gaspipeline durch die Ostsee, engagiert bin. In zahlreichen Artikeln und Interviews, durch parlamentarische Arbeit und bei Veranstaltungen im europäischen und im deutschen Parlament, bei Vor-Ort-Besuchen, bei Gesprächen in Warschau und Washington, Stralsund, Kopenhagen, Vilnius, München und vielen anderen Orten, in Debatten mit Befürwortern der Gaspipeline, Beratungen mit Gegnern, insbesondere auch aus Umweltverbänden, habe ich immer wieder dafür geworben, diese Pipeline nicht zu bauen. Und gegen die kecke, manchmal geradezu provozierende Selbstgewissheit von Gazprom und dem ganzen Nord Stream-Konsortium, dass ihr Riesen-Investitionsvorhaben nicht aufgehalten werden könnte, habe ich immer wieder Zweifel gesät und versucht, die Alternativen stark zu machen. Seit kurzem hat sich da etwas verändert. Ich glaube jetzt, dass wir Nord Stream 2 aufhalten werden.

Die Argumente gegen Nord Stream 2 sind schon oft vorgetragen worden. Nord Stream 2 ist energiepolitisch unnötig, weil es den von Gazprom behaupteten europäischen Gasbedarf bei konsequenter Umsetzung der europäischen Energiepolitik in der Größenordnung gar nicht geben wird. Eine auf 50-jährige Nutzung angelegte Pipeline ist klimapolitisch schädlich, weil sie eine fossile Fixierung weit über den Zeitpunkt hinaus bedeuten würde, zu dem Europa, um seine Paris-Ziele einzuhalten, längst ganz auf erneuerbare Energie umgestiegen sein muss. Die Pipeline zielt darauf, die Ukraine zu destabilisieren, weil sie ihr, möglichst schon ab 2019, die Transitgebühren entziehen will. Zwar hat der Gazprom-Chef vor kurzem gesagt, man könne auch in Zukunft etwas Gas durch die Ukraine leiten, aber das von ihm genannte Volumen von bis zu 12 bcm/a wäre nur ein kleiner Bruchteil des derzeitigen Niveaus und nicht genug, um die Finanzierung des ukrainischen Rohrleitungsnetzes zu ermöglichen. Es wäre zum Sterben zu viel und zum Leben zu wenig. Die Gaspipeline würde die Energieabhängigkeit der EU verstärken, ganz im Gegenteil zu den erklärten Zielen der europäischen Energiepolitik. Wenn der übergroße Löwenanteil russischen Gases in Europa nur noch über eine Route geliefert würde, wäre das das Gegenteil der versprochenen Diversifizierung. Ohne die Anwendung der Regeln des Energiebinnenmarktes auf eine solche Importpipeline würde der Betreiber in seiner Monopolstellung gegenüber anderen Wirtschaftsakteuren privilegiert. Dass insbesondere Polen, die baltischen Länder sowie Dänemark und Schweden gegenüber Nord Stream 2 sicherheitspolitische Bedenken haben, gründet sich auf zwei Überlegungen. Zum einen fürchten sie zu Recht, dass der russische Einfluss über den wirtschaftspolitischen Hebel verstärkt würde. Zum anderen treibt es sie um, dass eine für Russland so zentrale Gasexportpipeline beliebig viele Gründe und Vorwände für eine militärische Aufrüstung in der Ostsee bieten würde. Und schließlich wäre die Durchsetzung von Nord Stream 2 in einer von Gerhard Schröder repräsentierten deutsch-russischen Allianz gegen die Interessen wesentlicher EU-Nachbarn eine Absage an europäische Solidarität und eine besonders schwere Belastung vor allem der deutsch-polnischen Beziehungen.

Man muss sich eigentlich wundern, dass trotz aller dieser Bedenken die Pipeline Nord Stream 2 nicht längst vom Tisch ist. Das liegt an verschiedenen Gründen: an der verfehlten SPD-Russlandpolitik Schröderscher Prägung; an den fossilen Interessen der BASF und anderer Konzerne; an der geschickten Lobby-Politik von Gazprom, die nicht davor zurückschreckt, sich in verschiedenen politischen Lagern Einflussagenten zu besorgen; an purer strategischer Unvernunft; an der Unterschätzung sicherheitspolitischer Risiken. Und vor allem an der Tatsache, dass die Bundeskanzlerin zum einen nicht geneigt war, sich den Konflikt um Nord Stream 2 zu allem Überfluss auch noch auf ihr von zu managenden Krisen überladenes Tablett zu holen, und zum anderen von wichtigen außenpolitischen Partnern wegen dieser Haltung kaum behelligt wurde. Gerade letzteres ändert sich derzeit.

Die US-Regierung argumentiert schon lange gegen Nord Stream 2. Sie geht aber offenbar nun dazu über, massiven Druck dagegen auszuüben. Sie unterstützt den Widerstand in Schweden, Dänemark und Polen. Sie wirkt auf Frankreich ein, zu dem Projekt auf Abstand zu gehen. Sie war daran beteiligt, das Thema unter NATO-Botschaftern zu besprechen, wo anscheinend nur Deutsche und Holländer pro Nord Stream auftraten. Sie wirkt dabei mit, Nord Stream 2 auf die Tagesordnung des nächsten G7-Gipfels zu bringen. Sie wird schließlich, das ergaben meine Gespräche in Washington vor kurzem, bei dem anstehenden Besuchstermin der Bundeskanzlerin in D.C. Nord Stream 2 zu einem wichtigen Thema machen. Frankreich geht zu Nord Stream 2 auch auf Distanz, aus welchem Grund auch immer. Das ergab jedenfalls die Antwort von Staatspräsident Macron diese Woche auf meine Frage im Europäischen Parlament. Frau Merkel selbst hat bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem ukrainischen Präsidenten Poroschenko vor kurzem erkennen lassen, dass sie den Druck durchaus spürt. Sie hatte bis dahin konsistent behauptet, es handele sich bei Nord Stream 2 nur um ein wirtschaftliches Projekt. Das habe mit Politik nichts zu tun. Das war natürlich eine Schutzbehauptung. Bei der Poroschenko-Pressekonferenz sprach sie jetzt zum ersten Mal davon, dass es eben auch gewisse politische Dimensionen dieses Projektes gebe. Nach dem Bericht eines Unions-Insiders haben diese wenigen Sätze bei CDU und CSU intern große Wirkung gezeitigt. Das Bollwerk an Ausflüchten schwankt. Es wird ein Stück weit ein mögliches Argumentationsmuster sichtbar, mit dem sich Merkel doch noch von Nord Stream 2 verabschieden kann. Das geht etwa so: Ich habe nichts gegen Nord Stream 2. Ich hatte noch nie etwas dagegen. Ob das wirtschaftlich Sinn macht, müssen die Investoren entscheiden. Im Kern halte ich es für ein wirtschaftliches Projekt. ABER, dass ich dieses Projekt um jeden Preis durchzocken helfen werde, habe ich auch nie gesagt. Dass Deutschland den politischen Preis zahlen soll für eine mögliche Destabilisierung der Ukraine, weil Gazprom Energie zur Waffe der russischen Außenpolitik machen will, das sehe ich nicht ein. Dass Deutschland den politischen Preis zahlen soll für ein böses Zerwürfnis mit Polen in einer Situation, in der wir auch Polen für die Herstellung politischer Handlungsfähigkeit der EU brauchen, wäre arg riskant. Dass wir angesichts des ohnehin schwierigen Verhältnisses zu den USA mit ihnen jetzt auch noch einen Großkonflikt um Nord Stream 2 eskalieren lassen sollten, wäre keine Staatsklugheit. Und will sich die BASF nicht sowieso von ihrem fossilen Geschäft verabschieden? Also, ich kann mir nach wie vor Nord Stream 2 gut vorstellen, aber eben ohne diese politischen Kosten, die derzeit damit verbunden zu sein scheinen. Wenn allerdings Gazprom und die russische Seite insgesamt keinen Weg finden, wie man diese Folgekosten vermeiden kann, dann kann Nord Stream an dieser Halsstarrigkeit auch noch scheitern.

Für Frau Merkel hätte diese Argumentationslinie den Vorteil, nicht eingestehen zu müssen, dass sie mit ihrer Haltung zu Nord Stream 2 von vornherein schief gewickelt war, weil ja die genannten Folgekosten keineswegs zufällige, sondern logische und zum Teil direkt gesuchte Konsequenzen des Projekts von Anfang an gewesen sind. Sie behilft sich dann mit der Gedankenkonstruktion eines möglicherweise für alle Seiten befriedigenden Nord Stream-Projektes, das leider die treibenden Kräfte dann doch nicht zustande brachten, bedauert das möglicherweise extra noch, und sagt dann eben: Nein.

Ich glaube, so wird Nord Stream 2 fallen. Die Abwicklung im einzelnen könnte sich natürlich noch eine Weile hinziehen.


 

Sonst noch
  • Meine Pressemitteilung zur Reform der Gasrichtlinie und zum Treffen Macron-Merkel ist hier und das Video mit meiner Frage an Staatspräsident Macron zu Nord Stream 2 hier zu finden.
  • Meine Pressemitteilung zur Rede von Macron im Parlament könnt Ihr hier sowie eine gemeinsame Pressemitteilung von Monica Frassoni und mir dazu hier nachlesen.
  • Bündnis 90/Die Grünen wollen ein neues Grundsatzprogramm schreiben. Braucht’s das? Dazu mein Interview mit der Stuttgarter Zeitung.
  • Zur Syrien-Debatte der EU-Außenminister gibt es ebenfalls eine Pressemitteilung von mir.
  • Traditionell berichte ich in meinen Plenarnotizen über die Sitzungswoche in Straßburg: Thema der Woche, Gewinner und Verlierer, Grüner Erfolg der Woche und meine Arbeit.