Neun Seiten füllen die Unterschriften zu einer „Gemeinsamen Erklärung für eine ambitionierte industriepolitische Strategie der EU“, die Industrieverbände vor kurzem veröffentlicht haben. Ein solcher öffentlicher Appell ist ungewöhnlich. Er bringt Unzufriedenheit zum Ausdruck, Unzufriedenheit mit der (fehlenden) industriepolitischen Strategie der Europäischen Kommission. Solche Unzufriedenheit gibt es auch im Europäischen Parlament schon lange, und sie bezieht sich nicht nur auf die Person der Industrie-Kommissarin Bieńkowska, die so viel damit zu tun hat, sich selbst zu loben, dass sie nicht dazu kommt, zu verstehen, warum und wie stark die Sorgen sich ausbreiten. Unzufriedenheit gibt es auch bei den Mitgliedsstaaten, die im Mai von der Kommission eine umfassende industriepolitische Strategie eingefordert haben. Bei Präsident Juncker, das ist mein Eindruck, ist das Thema inzwischen angekommen. Mal sehen, ob der öffentliche Druck ausreicht, ihn dazu zu bringen, dass er bis zu seiner Rede über die Lage der Europäischen Union im Herbst über die üblichen allgemeinen Bekenntnisse hinausgeht und Gestaltungsinitiativen vorlegt.
Das Europäische Parlament hat in seinem Juni-Plenum in Straßburg zweimal über Aspekte der Industriepolitik diskutiert. Dabei gab es natürlich auch Beiträge, die einfach nur altbekannte, sterile Fronten hochziehen wollten. Die NRW-CDUler Reul und Pieper etwa konnten in ihrer dogmatischen Art nicht heftig genug gegen die ökologische Dimension der Industriepolitik wettern, und aus den Reihen der britischen Rechten kamen nach altbekannter Melodie die Deregulierungsparolen, so als glaubte man dort tatsächlich, Problemlösungen fänden sich am ehesten beim Verzicht auf Regulierungen. Doch es gab auch interessantere Töne. Etwa von dem französischen Gewerkschafter E. Martin, der die Verbindung zwischen Industrie und Nachhaltigkeit betonte. Oder von dem italienischen Christdemokraten Salini, der Inklusion und ökologische Verantwortung als notwendige Bestandteile der Industriepolitik hervorhob. Insgesamt lassen sich die zwei Debatten, wie sie im Europäischen Parlament geführt wurden, so charakterisieren: Die Hauptprobleme für die Zukunft der europäische Industrie werden in der wachsenden internationalen Konkurrenz aus neuen Industrieländern – wie China oder Indien – oder aus sich protektionistischen verbarrikadierenden Ländern wie den USA gesehen. Die Diskussionen um Industriepolitik blicken deutlich über die Gestaltung des Binnenmarktes heraus. Dabei werden wichtige Grundsatzfragen aufgemacht. Nicht wenige Stimmen wollen eine protektionistische Wende. Aber wäre das eine Lösung? Gibt es vielleicht einen Schutz für die europäische Industrie, der nicht protektionistisch ist?
Ich glaube, dass die industriepolitischen Fragen nach innen und nach außen eng verwoben sind. Es kommen durchaus neue Herausforderungen auf uns zu. Es ist zum Beispiel eine Tatsache, dass ausländische Staatskonzerne in Europa auf Industrie-Einkaufstour gehen, weil sie zu Hause in einem Maße subventioniert werden, wie es Mitgliedsländern und Unternehmen in der EU verboten ist. Es ist so, dass in Europa offene Investitionslandschaften von externen Akteuren genutzt werden, die zu Hause bestimmte Märkte scharf gegen europäische Investitionen abschotten. Und man muss genau hinsehen, wenn Kronjuwelen europäischer Hightech-Entwicklung aus Drittländern aufgekauft werden sollen, obwohl es sich um sensible Sektoren handelt, in denen die erfolgreiche Entwicklung massiv durch öffentliche Forschungsgelder mitfinanziert war. Eine Tatsache ist auch, dass das europäische Wettbewerbsrecht zwar Fusionen großer Unternehmen in Europa prüft, aber all zu oft gar nicht hinschaut, wenn anderswo – konkreter Fall: der Eisenbahnsektor in China – gigantische Monopolisten entstehen, die alleine doppelt so groß sind wie die drei größten europäischen Unternehmen in dem Bereich zusammen. Hilflos ist es, wenn in solchen Fällen einfach nur das Mantra der Reziprozität herunter gebetet wird. Das läuft auf Selbstbetäubung hinaus. Reziprozität heißt, dass die Regeln, die wir einräumen, im Gegenzug auch uns eingeräumt werden müssen. Als frommer Wunsch ist das wunderbar, mit Realpolitik hat das nichts zu tun. Also was tun? Offenbar müssen wir die Rahmenbedingungen überprüfen, mit denen wir operieren.
Zunächst muss europäische Industriepolitik erst mal europäisch werden. Bisher handelt es sich eher um eine Ansammlung national oder sektoral versäulter Ansätze. Europäische Industriepolitik muss innovationszentriert sein. Europäische Industriepolitik muss einen Querschnittansatz wählen, der Technologie, Markt, Finanzierung und Qualifikation gleichermaßen thematisiert. Europäische Industriepolitik muss dass Prinzip der Inklusivität ernst nehmen, sowohl was die Rolle von ArbeitnehmerInnen und Gewerkschaften betrifft, als auch mit Hinblick auf die unterschiedlichen europäischen Regionen. Und europäische Industriepolitik muss holistisch sein. Das schließt ein, dass sie sich nicht nur einseitig an Wettbewerbsfähigkeit orientieren darf, sondern begreifen muss, dass künftige Wettbewerbsfähigkeit nur auf der Basis von Nachhaltigkeit möglich sein wird. Industriekommissarin Bieńkowska sprach im Europäischen Parlament von ihrer Vision für die europäische Industrie. Aber ihre Vision hatte ein riesengroßes Loch. Begriffe wie Umwelt, Ökologie, Nachhaltigkeit kamen bei ihr gar nicht vor. Das Wort Klima nahm sie bezeichnenderweise nur in der Zusammensetzung „Investitionsklima“ in den Mund. Ich habe das im Plenum deutlich kritisiert. Danach ließ sie mir mitteilen, sie wolle gerne mit mir sprechen, zum ersten Mal seit längerem wieder. Ich hoffe, dass sie nicht nur die Kritik besänftigen will, sondern auch anfängt, die ökologische Industriepolitik, für die wir bei ihr seit längerem vergeblich geworben haben, ins Auge zu fassen. Eigentlich liegt es ja auf der Hand, dass sich Innovationsentwicklungen in den Bereichen Digitalisierung, Ökoeffiezienz und Kreislaufwirtschaft gegenseitig stärken und der europäischen Industrie eine Perspektive bieten, wenn man sie verbindet.
Seit der Begriff Industrie 4.0 erfunden wurde, ist es üblich geworden, von einer gerade stattfindenden vierten industriellen Revolution zu sprechen. Aber zu viele sprechen davon so, als sei das keineswegs ein Grund, hinter einem gemütlichen Ofen hervorzukrabbeln oder business as usual durch Ehrgeiz zu ersetzen. Diese Stimmen sagen Revolution, aber ignorieren, dass sie tatsächlich stattfindet. Sie glauben nicht, was sie selber sagen. Revolution heißt Disruption. Wenn eine Revolution unterwegs ist, findet sich derjenige, der das nicht begreift, schnell im Abseits wieder. Für Europa entscheidet sich meines Erachtens in den nächsten fünf bis zehn Jahren, ob es eine starke industrielle Zukunft hat oder sich mehr auf industrielle Nostalgie beschränken wird.