Ich erinnere mich noch an die Zeit, als Kurt Beck SPD-Parteivorsitzender war. Mehrfach, wenn wir zusammen saßen, spekulierten wir darüber, wie es wohl gelingen könnte, in einer neuen rot-grünen Regierungsallianz an die Schröder-Fischer-Jahre anzuknüpfen. Und jedes Mal, wenn ich ihn fragte, wie die SPD vielleicht wieder auf 33 Prozent kommen könnte, das hielt ich für deren Mindestbeitrag, zuckte Beck nur mit den Achseln. Ihm erschien diese Zahl illusionär. Er hatte für seine eigene Zeit Recht, aber auch keinem seiner Nachfolger gelang es bisher, wieder in solche Höhen aufzusteigen. Jetzt kommt Martin Schulz, und siehe, es ist alles neu, 32 Prozent Stimmenanteil für die SPD attestierte ihm schon eine Umfrage und mit seinem unerschütterlichen Glauben an sich selbst ist auch vorstellbar, dass da noch was draufkommt. Wieso kann Schulz etwas, was seine Vorgänger nicht konnten? Schulz profitiert von drei Faktoren. Von der verbreiteten Merkel-Müdigkeit. Vom Anschein des neuen Gesichtes. Von der Unverschämtheit seiner Selbstgewissheit.
Offenbar hatte Angela Merkel Recht, dass Sie es sich mit ihrer Entscheidung noch einmal zu kandidieren nicht leicht machte. In Grünen Kreisen ist von einer Merkel-Müdigkeit nicht viel zu sehen. Manchmal hat man fast den Eindruck, sie genieße da mehr Zuspruch als in Unionsreihen. Winfried Kretschmann mit seinem berühmt gewordenen Beten für Merkel und Joschka Fischer mit mehrfachen Plädoyers dafür, dass nur Merkel Europa zusammenhalten könne, haben dieser Stimmung Ausdruck gegeben. Aber jenseits des Grünen Milieus ist Merkel-Müdigkeit weit verbreitet. Soweit, dass ganz unterschiedliche politische Akteure damit Wahlkampf machen. Sellering hat das in MV getan. Seehofer tut es fast jeden Tag. Lindner tut es oft in erstaunlich gehässiger Weise. Und die Petry/Gauland/Höcke-Mischpoke sowieso. Es ist eine bemerkenswerte Leistung des Adenauer-Hauses und des Kanzleramtes, dass nicht viel, viel mehr darüber geredet wird und geschrieben, wie sehr sich diese Merkel-Müdigkeit auch in der CDU selbst ausgebreitet hat. Angela Merkel hat lange Zeit darum gekämpft, gegen diesen Trend die Definitionshoheit für die Unions-Politik zu halten. Es ist ihr nicht gelungen. Sichtbar wurde das beim CDU-Bundesparteitag, wo die CDU anfing dem Druck von Rechts systematisch nachzugeben. Aktuell sind Wolfgang Schäuble und sein Staatssekretär Spahn die zwei hervorragendsten Vertreter der Nach-Merkel-Politik in der CDU.
Merkel bestimmt den Ton nicht mehr. Aber sie schien als Person trotzdem bis vor kurzem noch alternativlos. In der Union selbst gab es niemanden der ihr das Wasser reichen könnte. Der FDP-ler Lindner ist alles andere als beeindruckend. Sigmar Gabriel hatte schon lang den endgültigen Ruf weg unzuverlässig zu sein. Uns Grünen gelang es nicht in dieses Spiel einzugreifen, trotz Kretschmann. Und Frau Petry von der AfD ist für sehr viele -erfreulicherweise– einfach pfui. Doch nun kommt Schulz daher und sagt ich kann’s. Und ihm fallen wie reife Früchte die Stimmen vieler zu, die sich von Merkel abwenden wollen. Das ist keine eigene Stärke von Schulz, aber es ist auch nicht nur ein vorübergehendes Phänomen. Denn Merkels Schwäche wird eher größer werden und damit auch die Tendenz zur Abkehr von ihr.
Für Schulz spricht auch, dass er „der Neue“ ist. Zwar ist er seit 1999 im SPD-Vorstand, ist dort inzwischen der Dienstälteste, aber er hat in Deutschland nie mitregiert, war bisher Brüsseler und biedert sich jetzt als einer an, der vielleicht – weil er scheinbar von außen kommt-, zu Neuem fähig sein könnte. Diese Seite von Martin Schulz Erfolg halte ich für etwas wackelig. Man sah schon am Umgang mit der Hartz 4-Tradition der SPD, dass er sich eben doch nicht als Quereinsteiger von den Dilemmata, welche die Sozialdemokraten jetzt seit Jahren plagen, ganz freimachen kann. Man wird sehen wie das geht.
Und schließlich gewinnt Schulz auch dadurch, dass er laut und selbstbewusst sagt: Ich will gewinnen. Er inszeniert neu, wie nach der Einsicht von Oskar Lafontaine, dass die Menschen nur dem vertrauen, der an sich selbst glaubt. Die Entschiedenheit, dieser demonstrative Machtwille, diese gewisse Rücksichtslosigkeit auch, das erscheint in der inhaltlich-politischen Unübersichtlichkeit als Ausweis eines Mannes, der möglicherweise doch weiß wohin es gehen soll. Zudem kann er durchaus auch den Kumpel geben mit dem man gerne ein Bier trinkt. In der Hinsicht unterscheidet er sich ebenso vorteilhaft von Sigmar Gabriel wie Georg W. Bush sich einst von Al Gore abhob. Und wie damals an dem vermeintlichen Sympathieträger Bush die Besserwisser-Argumente des Herr-Lehrer-ich-weiß-was-Kandidaten Gore abprallten, so könnten an Schulz die Argumente derer abprallen, die auf seinem Mangel an „konkreten Inhalten“ herumreiten, wo er gerade den Verzicht auf das allzu Präzise zu solchen „Inhalten“ mit zur Basis seines Werbens macht. Diese Stärke von Schulz wird sich, wenn die SPD ihn weiter so trägt wie bisher, im Wahlkampf durchaus zu seinen Gunsten auswirken.
Was haben wir also? Eine durch eine Verkettung für sie glücklicher Umstände womöglich nicht nur momentan wiedererstarkende SPD. Eine, das habe ich nur angedeutet, deutlich schwächer werdende Attraktivität der Bundeskanzlerin und eine Union, die die Nach-Merkel-Zeit schon einläutet. Wir Grüne werden die strategischen Konsequenzen dieser Verschiebung analysieren und abwägen müssen. Klar ist allerdings: Der Kampf um Grüne Eigenständigkeit bleibt richtig, er wird jedoch schwerer.