Die Nachfolge von Martin Schulz als Präsident im Europäischen Parlament hat sich zum Trauerspiel entwickelt. Am verzweifeltsten ist dabei die Europäische Volkspartei (EVP), die diese Position gemäß einer zweieinhalb Jahre alten Vereinbarung mit den Sozialdemokraten (S&D) für sich beansprucht. Der christdemokratische Schlamassel geht so weit, dass mir einer ihrer Abgeordneten sagte: „Ach, hätte doch Martin Schulz bessere Nerven behalten und an seiner Kandidatur festgehalten, dann könnten wir den jetzt wählen.“
Bemerkenswert ist so ein Satz allemal. Geradezu komisch ist er, weil noch vor kurzem die Entschlossenheit sehr weitgehend war, diese Ära Schulz mit dessen Selbstherrlichkeiten hinter sich zu lassen. Zurecht übrigens, wie ich meine.
Doch dann machte Manfred Weber, der EVP-Fraktionsvorsitzende, einen entscheidenden Fehler, der den Anspruch auf die Präsidentenposition für seine Fraktion nicht zuletzt unter dem Druck der eigenen deutschen Kollegen klar eingefordert hatte. Er brauchte zu lange, um zu dem Ergebnis zu kommen, dass die vielfältigen Einflüsterungen, wonach er selbst am besten Präsident werden sollte, tatsächlich nicht in seinem Interesse lagen. Und während er noch nachdachte, organisierte der Italiener Tajani aus dem dortigen Berlusconi-Lager eine starke Minderheitsunterstützung in der EVP-Fraktion. Es gab zwar zahlreiche Hinweise aus anderen Fraktionen, einschließlich aus unserer Grünen/EFA-Fraktion, dass Tajani von allen denkbaren EVP-Kandidaten der einzige wäre, den man nicht mittragen würde. Die EVP-internen Alternativen zu Tajani waren aber zu schwach, um sich selbst dort Mehrheiten zu organisieren und Weber, der das für eine akzeptable Person hätte tun müssen, dachte so lange über sich selbst nach, bis es zu spät war. Tajani bekam dann zwar keine Mehrheit, aber seine EVP-Konkurrenten einschließlich der Irin McGuinness, die in der Grünen Fraktion viel Sympathie genießt, ergriffen das Hasenpanier.
Im Gegenzug zu Tajani beansprucht für die Sozialdemokratische Fraktion ein anderer Italiener, deren Fraktionsvorsitzende Pittella, er müsse EP-Präsident werden. Das einzige engagierte Argument dafür, das ich von Pittella bisher gehört habe, läuft darauf hinaus, proporz-mäßig stehe diese Position irgendwie der Europäischen Sozialdemokratie zu. Zwar fand Pittella vor zweieinhalb Jahren nichts dabei, zusammen mit Martin Schulz den Christdemokraten zuzusichern, man werde für die zweite Hälfte der Legislaturperiode einen von denen mitwählen, aber nachdem er damit der Auffassung beigetreten war, die Präsidentenwahl des Parlaments sei in Wirklichkeit nur ein bilateraler Privat-Deal zwischen zwei Parteifamilien, fand er es jetzt eben wenig problematisch zu verkünden, er bestünde auf einem für ihn selbst günstigeren anderen Deal. Ich habe übrigens noch keinen EP-Sozi getroffen, der das anders sah.
Konnte es nicht doch noch dritte Alternativen geben, zumal die vier kleineren Fraktionen ECR (Tories), ALDE (Liberale), GUE (LINKE) und Grüne zusammen mehr Abgeordnete stellen als EVP oder S&D jeweils? Auftritt für Guy Verhofstadt, den Fraktionsvorsitzenden der ALDE-Fraktion. Erst beseitigte er kalt die Ambition einer französischen Fraktionskollegin, die sich unbotmäßig vorgewagt hatte, dann versuchte er, Pittella einzureden, dass der die Verwirklichung des demokratischen Sozialismus im Liberalismus zu finden habe, was schief ging, weil Pittella inzwischen schon vom Vorgefühl neuer präsidentieller Würde ergriffen war. Dann versuchte Verhofstadt den ganz großen Coup und handelte mit den 17 Abgeordneten der 5-Sterne-Bewegung aus Italien aus, dass diese ALDE beitreten würden. Dabei muss man wirklich sagen: der Ober-Euro-Förderalist Verhofstadt und der Anti-Euro-Populist Grillo haben offenkundig außer Machtwillen so gut wie gar nichts gemein. Nun kommt man mit Machtwillen weit, wenn man es geschickt betreibt. Doch Verhofstadt fing es dumm an. Er handelte den Grillo-Deal aus, ohne einen Großteil der Mitglieder seiner Fraktion überhaupt darüber zu informieren, was da im Gange war. Der distinguierte deutsche Oberliberale, Graf Lambsdorff, war dabei übrigens Verhofstadts treuer Helfer. Als sich jedoch erwies, dass eine erfreulich große Zahl von Liberalen mit diesem Ausverkauf ihrer Grundsätze nicht einverstanden war, blies Verhofstadt die Sache wieder ab, obwohl Grillo parallel dazu in Italien in einer blitzartig von einer auf den anderen Tag anberaumten Online-Abstimmung 78% Unterstützung mobilisiert hatte. Ein schäbiger Umgang mit Demokratie auf beiden Seiten dieser Mesalliance. Verhofstadt hat sich selbst desavouiert und damit um die ursprünglich durchaus nicht illusionären Aussichten seiner pfiffigen Kandidatur gebracht.
Neben EVP, S&D und ALDE haben Ende letzten Jahres auch Grüne – die englische Abgeordnete Jean Lamberts – Linke (GUE), ECR und die 5 Sterne Parlamentspräsident-Kandidaten*innen nominiert. Zudem beschloss die Grüne Fraktion, mit ALDE, ECR und GUE darüber zu verhandeln, ob man gegebenenfalls gemeinsam die Kandidatur der Kandidatin/ des Kandidaten aus den Reihen dieser vier Fraktionen unterstützen sollte, die oder der bei einer internen Vorauswahl das größte Vertrauen gewinnen würde. Gewiss ein unkonventioneller Vorschlag, aber er hätte ermöglicht, dass die kleineren Fraktionen gemeinsam gegen die Dominanz von EVP und S&D aufstehen und die Verhältnisse ein bisschen zum Tanzen bringen. Die Begeisterung bei den ins Auge gefassten Partnern war aber sehr gering, so dass die Sache im Sande verlief. Für sich alleine können die Kandidat*innen der vier kleinen Fraktionen realistischerweise jedoch nicht erwarten, die Wahl zu gewinnen. Der 5 Sterne Kandidat hat inzwischen seine Kandidatur zurückgezogen; möglicherweise war das ein Preis dafür, dass die Grillo-Helden jetzt doch wieder bei Farage und seiner UKIP unterkriechen durften.
Die Grüne Fraktion hat alle anderen Kandidatinnen und Kandidaten angehört. Tatsächlich jedoch kann sich allenfalls Pitella Hoffnung auf Grüne Stimmen machen. Allerdings präsentierte er sich vor der Grünen/EFA Fraktion in einer so opportunistischen Art und Weise, dass es wohl keinem von uns danach leichter fällt, eventuell für ihn ein Kreuz zu machen.
Die Meister der kleinen Einmaleins sind jetzt dabei, mögliche Stimmen für Tajani bzw. für Pitella zu zählen. Im vierten Wahlgang würde, wenn sich nun nichts mehr ändert, das die Alternative sein. Manche meinen, einen minimalen Vorteil für Tajani entdeckt zu haben. Tatsache scheint aber, dass Tajani nicht ohne Stimmen von ganz Rechtsaußen gewinnen kann und Pitella nicht ohne Stimmen von ganz Linksaußen. Eine belämmernde Situation.
Einen Ausweg gäbe es vielleicht. Sollten Manfred Weber und die Bedachten in der EVP-Fraktion einen Weg finden, nach zwei entscheidungslosen Wahlgängen eine Konsenskandidatin vorzuschlagen, dann würden sicher viele Abgeordnete aus verschiedenen Fraktionen, uns deutsche Grüne eingeschlossen, sich dem nicht verweigern. Hat Weber die Übersicht und die Kraft dafür?
Das Europäische Parlament hat es, so sieht es aus, tatsächlich geschafft, sich selbst über alle diese Vorgänge zu beschädigen. Es sei denn, es geschieht noch ein Wunder.