Der weite Weg zu zweit: Wie kann die Spaltung zwischen Deutschland und Polen überwunden werden?

VON REINHARD BÜTIKOFER UND ADAM OSTOLSKI – Erschienen in DIE ZEIT vom 23. Juni 2016

Lang und steinig war der Weg hin zu einer Versöhnung unserer beiden Nationen. Die Schrecken des Holocaust und der Zerstörungen durch Nazideutschland im Zweiten Weltkrieg hinterließen Asche und Ruinen, zerschmetterte Staaten, Europa beklagte Millionen Tote. Diese dunklen Schatten sollen unvergessen bleiben. Wenn unsere Länder dieser Tage das 25-jährige Bestehen des Polnisch-Deutschen Nachbarschaftsvertrags feiern, schauen wir zurück und sehen, wie weit wir es geschafft haben.

Das deutsche und das polnische Volk schulden einander viel und teilen viele Erfahrungen. Beide haben Unterdrückung im eigenen Land erfahren, beide haben für Freiheit gekämpft. Als 1832 auf dem Hambacher Fest in Deutschland ein Ruf nach Freiheit und Demokratie erklang, schloss sich eine große polnische Delegation diesen Demonstrationen an. Und die deutsche Wiedervereinigung 1990 wäre undenkbar gewesen ohne das enorme Vertrauen, das die Polen den Deutschen schenkten.

In den letzten 25 Jahren wurden Klüfte überwunden und Grenzen eingerissen. Unsere Länder und Völker rückten näher zusammen, Polen wurde Teil der Europäischen Union, es bildete sich eine Achse Paris– Warschau–Berlin, Weimarer Dreieck genannt. Das Engagement und das Bekenntnis zur deutschpolnischen Annäherung haben ein Fundament des Vertrauens gelegt. Es wurde zum tragenden Pfeiler europäischer Aussöhnung und Stabilität.

Aber nichts davon ist eine Selbstverständlichkeit. In den vergangenen Monaten wuchs die Liste der Probleme, die uns trennen. Vom Thema Flüchtlinge bis zur Rechtsstaatlichkeit, von der Russlandpolitik über die Energiesicherheit bis hin zum Klimaschutz findet sich im Moment nur selten ein Zoll gemeinsamen Bodens. Von einem Paradigmenwechsel kann noch nicht die Rede sein – doch unser Verhältnis bewegt sich in einer Spirale abwärts, ebenso wie der Ton und der Anstand im Umgang. Beide Seiten sind mitverantwortlich für den Strudel nach unten.

Es fehlt an Solidarität und Rücksichtnahme gegenüber der Situation des jeweils anderen, seinen Interessen und den gemeinsamen Prinzipien. So treibt Berlin die Gaspipeline Nord Stream 2 zwischen Deutschland und Russland voran und weigert sich gleichzeitig, Warschau in einem regionalen Cluster der Energiesolidarität zu unterstützen, das die EU-Kommission vorgeschlagen hatte. Damit ignoriert es Polens legitime energiepolitische Interessen. Und der Vorschlag von Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier, die Russland-Sanktionen im Fall von Fortschritten in der Ukraine Schritt für Schritt zu lockern, war ein unnötiger Schuss aus der Hüfte, der mehr für Zwist gesorgt hat, als dass er Verständigung bewirkt hätte.

Zugleich zeigt Polen mit seiner Zurückhaltung bei der Lastenteilung in der Flüchtlingskrise weder Solidarität gegenüber seinen europäischen Partnern noch gegenüber den verzweifelten Seelen, die vor Kriegsgräueln fliehen. Und ganz offensichtlich untergraben Warschaus Maßnahmen das polnische Verfassungsgericht und damit auch die Rechtsstaatlichkeit, das europäische Wertefundament selbst. Sie stehen nicht in Einklang mit den Prinzipien der Menschenrechte, der Demokratie und der Herrschaft des Rechts, die auch der Polnisch-Deutsche Nachbarschaftsvertrag hervorhebt.

Wenn wir heute damit scheitern, gemeinsamen Boden zu finden, riskieren wir einen Vertrauensverlust und ein noch größeres Scheitern morgen. Die nächsten 25 Jahre werden uns noch mehr gemeinsame Herausforderungen bringen. Auch wenn wir diese mit unterschiedlichen Augen sehen – Beispiel Klimapolitik und auch der Umgang mit China –, können wir doch die Tatsache nicht leugnen, dass wir gemeinsam stärker sind. Wenn Regierungen nicht in der Lage sind, Differenzen zu überbrücken und Fortschritte zu schaffen, muss die Zivilgesellschaft aktiv werden. Denn die polnisch-deutsche Beziehung ist nicht nur Regierungssache. Sie wird befördert durch zivilgesellschaftliche Kräfte, die Kirchen, Familienbande über Grenzen hinweg, Städtepartnerschaften, Regionalpartnerschaften und wissenschaftlichen Austausch – all das fördert gegenseitiges Verstehen. Es sind deutsche Umweltschutzverbände, die sich dem Bau von Nord Stream 2 widersetzen. Es sind Bürgerbewegungen wie KOD, die die feindselige Rhetorik ablehnen, die aus den Reihen polnischer Regierungsvertreter kommt. In einer Zeit, in der Differenzen zwischen unseren Ländern wachsen, wirken solche Kräfte wie Kitt, der zusammenhält, was zu zerbrechen droht.

Berlin und Warschau müssen das Kind beim Namen nennen. Aber das ist nur der erste nötige Schritt, um Spaltungen zu überwinden. Wir blicken auf eine lange gemeinsame Geschichte mit politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bindungen zurück. Die Feier unseres 25. Freundschaftsfestes sollte uns daran erinnern.

Reinhard Bütikofer ist Vorsitzender der Europäischen Grünen Partei und Mitglied des Europäischen Parlaments. Adam Ostolski ist Soziologe an der Universität Warschau und Mitglied der Zeitschrift »Krytyka Polityczna«. Von 2013 bis 2016 war er Vorsitzender der polnischen Grünen.

 

Mit freundlicher Genehmigung von Die Zeit.  Dieser Text erscheint zugleich auch auf Polnisch in der »Gazeta Wyborcza«, Warschau