Zum neunten Mal seit Beginn ihrer Kanzlerschaft hat Angela Merkel China besucht. Sie hat in Beijing intensive Gespräche geführt und auch Shenyang im Nordosten besucht. Sie hatte mehr als ihr halbes Kabinett dabei und demonstrierte damit erneut, wie überaus eng die deutsch-chinesischen Beziehungen sind.
Doch es gab einen neuen Ton. Frau Merkel sprach von zunehmender Konkurrenz zwischen Deutschland und China. Dass es diese wachsende Konkurrenz gibt, sagen China-Experten auch. Dass die Kanzlerin das in China öffentlich ausspricht, markiert aber die Tatsache, dass die deutsch-chinesischen Beziehungen sich in einer neuen Phase befinden und neu reflektiert werden müssen.
Vorüber ist die Zeit, in der diese Beziehungen allenfalls ab und zu wegen Menschenrechtsfragen kleine politische Probleme machten oder wegen eines Berlinbesuchs des Dalai Lama Verstimmung auftrat. Noch bei der Verabredung einer deutsch-chinesischen Innovationspartnerschaft zwischen beiden Regierungen im Jahr 2014, die in fast allumfassendem Schwung zahllose Kapitel künftiger Kooperation auflistet, schien der Horizont weitgehend ungetrübt. VW machte 50 Prozent seiner Gewinne in China, aber auch ansonsten war die große Mehrheit deutscher Investoren dort zufrieden.
Den zuvor in der Solarbranche aufgebrochenen Streit um chinesische Dumpingexporte hatte Frau Merkel persönlich gegen den Europäischen Handelskommissar De Gucht im Wesentlichen zugunsten der chinesischen Seite entschieden. Aus anderen Branchen schien vergleichbarer Ärger nicht zu drohen. China hatte angefangen in zunehmendem Maße auch direkt in Deutschland zu investieren. So war schon 2012 die Firma Putzmeister von dem chinesischen Sany-Konzern aufgekauft worden, aber Beunruhigung schaffte das weder in ökonomischen noch politischen Kreisen. Das große chinesische Interesse an der „Industrie 4.0“–Strategie, die sich langsam in Deutschland entfaltete, wurde stolz als Bestätigung für den eigenen richtigen Kurs verbucht. Bei der Gründung der asiatischen Infrastrukturinvestitionsbank, die China betrieben hatte, ließ sich Deutschland von heftiger Opposition seitens der USA nicht beeindrucken und wurde eines der führenden Gründungsmitglieder. Über Ansätze in der chinesischen Europapolitik, die erkennbar darauf zielten, die alte Strategie des „divide et impera“ gegenüber den 28 EU-Ländern anzuwenden, war Berlin nicht besonders erzürnt; schließlich fuhr man selbst ja sehr gut. Und aus allen politischen Querelen, vor allem denen in Asien, hielt man sich weitgehend heraus, ob es nun um den chinesisch-japanischen Streit über die Senkaku / Diaoyu Inseln ging, oder um Chinas mangelnde Anstrengungen Nordkorea zu mehr Raison zu bringen, oder gar um die wachsenden Spannungen im Südchinesischen Meer.
Wohlgemerkt: die Phase der Kooperation ist nicht vorüber. Aber neben die Kooperation tritt die Einsicht, dass es mehr und mehr im Verhältnis gegenüber China notwendig wird, die sich entwickelnden Differenzen, Interessenskollisionen und zum Teil offenen Konflikte klar anzusprechen und dabei den eigenen Standpunkt klar und deutlich zu vertreten.
Hier einige Stichpunkte: Wachsende chinesische industrielle Überkapazitäten und die daraus folgende Beförderung von Dumpingexporten aus China nach Europa können europäische und auch deutsche Industriepolitik nicht unberührt lassen. Öffentlich wird das unter dem Stichwort „Chinas Marktwirtschaftsstatus“ debattiert. Praktisch geht es darum, auf WTO-kompatible Weise sicherzustellen, dass Dumpingexporten auch in Zukunft wirksam begegnet werden kann. Zweites Stichwort: Chinesische Investitionen in Europa. Chinesische Direktinvestitionen in Europa überstiegen 2015 die europäischen in China um mehr als 100 Prozent. Chinesische Konzerne gehen auf Einkaufstour. Das aktuell prominenteste Beispiel ist Kuka. Kann deutsche Industriepolitik gleichgültig zusehen wenn chinesische Konzerne, die dem dortigen Staat gehören oder jedenfalls unter direktem Parteieinfluss stehen, Perlen der hiesigen Innovationsbemühungen, Unternehmen von strategischem Wert, aufkaufen, um die Technologie nach China zu überführen? Drittes Stichwort: Bahnindustrie. In China ist durch Fusion von Staatsunternehmen ein Gigant der Bahnindustrie entstanden, der den europäischen Bahnunternehmen Siemens, Bombardier und Alstom zusammen doppelt überlegen ist. Der drängt jetzt auch auf europäische Märkte während der Zugang europäischer Unternehmen dieses Sektors zu Infrastrukturinvestitionen in China in den letzten Jahren stetig zurückgedrängt wurde. Muss das nicht Konsequenzen für unsere Wettbewerbspolitik haben? Viertes Stichwort: Chinas Strategie „Made in China 2025“ legt nicht nur die Ambition fest, China in den nächsten 15-25 Jahren zu einer global führenden Hi-Tech-Supermacht zu machen – warum sollte China keine Ambition zeigen? – sondern sagt auch klipp und klar, samt Vorgabe von zahlenmäßig definierten Zielen, dass dieser Hi-Tech-Aufschwung immer stärker internationale Unternehmen sowie Joint-Ventures mit internationaler Beteiligung aus den chinesischen Märkten herausdrängen solle.
Auch im politischen Bereich wachsen Differenzen deutlich. Sichtbar wurde das etwa an der chinesischen Gesetzgebung gegen ausländische NGOs, die bewusst so formuliert ist, dass damit jegliche polizeistaatliche Schikane und Unterdrückung gerechtfertigt werden kann. Viele europäische Stimmen, die Kanzlerin eingeschlossen, auch das Europäische Parlament und die europäische Außenpolitik ebenso wie zahlreiche Akteure aus Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Wirtschaft, haben versucht, ihren Einfluss geltend zu machen, um wenigstens zu einer präzisen Gesetzessprache beizutragen, die dann für rechtsstaatliche Überprüfung exekutiven Handelns die Basis böte. Umsonst. Der chinesischen Führung geht es nicht um die Einschränkung oder Bekämpfung einzelner NGOs, deren Tätigkeit missliebig ist, sondern es geht um die Bekämpfung von Prinzip und Praxis einer selbstständigen Zivilgesellschaft. Xi Jinpings Vision für China erstrebt einen modernen, technologie-basierten Autoritarismus, in dem Zonen der Selbstbestimmung nicht geduldet werden. Menschenrechts-„Predigten“ helfen dagegen nicht. Den richtigen Umgang mit dieser Entwicklung müssen wir erst finden. Aber: Es liegt auf der Hand, dass sich notwendigerweise zwischen dieser autoritären und unserer liberalen Orientierung Spannungen ergeben.
Von erhöhten Spannungen ist auch zum Beispiel die Situation im Südchinesischen Meer geprägt. Dort ist die EU und auch Deutschland sicherlich kein sicherheitspolitisch relevanter Akteur. Und britisch-französische Träume vom Gegenteil klingen für mich eher nach imperialer Nostalgie. Doch Interessen haben wir an politischer und wirtschaftlicher Stabilität. Dazu haben wir auch ein Interesse daran, dass China nicht unter den Mantel eines seit langem propagierten Multi-Polarismus die Grundlagen einer multi-lateral basierten internationalen Herrschaft des Rechts aushebelt. Wenn China, das die UNO-Seerechtskonvention UNCLOS ratifiziert hat, deren Gültigkeit dort schlichtweg bestreitet, wo diese eigenen Ansprüchen im Wege stehen könnte, dann findet aber genau das statt. Für Deutschland ist eine multi-laterale internationale Herrschaft des Rechts eine Grunddeterminante der Außenpolitik. Schwer vorstellbar, dass sich das nicht beißt.
Drei Schlussfolgerungen möchte ich betonen, die meines Erachtens aus den beschriebenen Veränderungen im deutsch-chinesischen Verhältnis zu ziehen sind.
Erstens: Es wäre falsch, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Wo Kooperation möglich ist, müssen wir sie suchen. Wir haben ein Interesse daran. Aber wir dürfen nicht wegen der Hoffnung auf Kooperation auf notwendige Auseinandersetzung verzichten.
Zweitens: Deutschland muss eine eigene China Politik viel stärker in den europäischen Verbund integrieren. Wir Deutschen, für uns alleine, haben nicht einen Löffel, der lang genug ist, um auf Dauer mit China aus derselben Schüssel zu essen. Deshalb ist es gut, dass die Europäische Kommission im Juni eine China Strategie für die EU publizieren wird. An der Debatte um diese muss Deutschland sich sehr aktiv beteiligen.
Drittens: Wir müssen die Debatte öffentlich als gesellschaftliche Debatte führen, nicht nur innerhalb politischer oder ökonomischer Eliten. Und wir müssen in dieser Debatte auch zur Verständigung über den Umgang mit bestimmten Entwicklungen kommen. Verpflichten sich wissenschaftliche Institutionen zum Beispiel, nicht hinzunehmen, wenn einzelne Forscherinnen und Forscher von Konferenzen ausgeschlossen werden, nur weil sie in China missliebig sind? Schafft bspw. der Bundestag mit einem regelmäßigen Bericht über die deutsch-chinesischen Beziehungen ein Instrument, das solche gesellschaftlichen Debatten erleichtert?
In meinem Umfeld bemerke ich wachsende Bereitschaft sich viel systematischer mit den Entwicklungen in China und im chinesisch-deutschen sowie chinesisch-europäischen Verhältnis auseinanderzusetzen. Das ist offensichtlich nötig.