Wenn man den Worten von EU Kommissionspräsident Jean Claude Juncker von vor einigen Monaten glauben will, dann haben ungefähr 32% der niederländischen Wählerinnen und Wähler bei ihrem Referendum am 6.April eine „kontinentale Krise“ ausgelöst. Oder besteht die „Krise“ vielleicht eher darin, dass sich die EU in einem Zustand befindet, der es Populisten von Rechtsaußen und Linksaußen leicht macht, gegen sie zu mobilisieren?
Tatsache ist: Zum zweiten Mal nach 2005, als sie den Entwurf einer europäischen Verfassung ablehnten, legten Bürgerinnen und Bürger in unserem Nachbarland europäische Verwerfungen offen. Sie tragen damit unbestreitbar zur Verschärfung der aktuellen europäischen Krise bei. Aber sie verursachen diese nicht.
Am niederländischen Referendum ist etliches bemerkenswert. Zum Beispiel die Tatsache, dass die formulierte Referendumsfrage bei der tatsächlichen Entscheidung nur eine höchst nachgeordnete Rolle spielte. Entschieden wurde nicht darüber, ob das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine, das alle anderen 27 EU-Mitgliedsländer bereits ratifiziert haben, nun auch von den Niederlanden unterstützt werden soll, sondern anscheinend darüber, ob die Ukraine EU-Mitglied werden soll – was derzeit niemand, der ernstzunehmend ist, vertritt – und ob man/frau ganz allgemein einmal den Unmut gegenüber den EU demonstrieren soll, egal aus welchem Grund und was gegebenenfalls die praktischen Konsequenzen sind. Bemerkenswert ist auch, dass relevante Stimmen im politischen Spektrum, darunter auch solche, die selbst mit dafür gekämpft hatten, dass diese Möglichkeit eines konsultativen Referendums überhaupt geschaffen wird, nun konkret dafür plädierten, lieber gar nicht an der Abstimmung teilzunehmen, weil damit deren Absicht am ehesten zu vereiteln sei. Das ist ja schon eine einigermaßen perverse Logik: Erst die Demokratie durch plebiszitäre Elemente verbessern, um anschließend im Plebiszit die Beteiligung zu verweigern, da die vermutete Volksmehrheit und die bekannte Parlamentsmehrheit nicht übereinstimmen!
Drittens fällt auf, wie lahm das ganze breite Lager der „Pro-Europäer“, die weder mit der formulierten Abstimmungsfrage noch mit der Motivation hinter der Abstimmung einverstanden waren, für seine Perspektive kämpfte. Vorne weg die niederländische Regierung, welche – bittere Ironie! – derzeit gerade die rotierende Ratspräsidentschaft innehat. Die Regierung, von den Rechtsliberalen der VVD geführt, konnte sich einfach nicht zu einer kämpferischen Position durchringen. Die liberale Parteifamilie ging, aus Solidarität wahrscheinlich, mit auf Tauchstation. Und der übergroße Star der niederländischen Europapolitik, der sozialdemokratische ehemalige Außenminister und derzeitige erste Vizepräsident der europäischen Kommission Frans Timmermans, unternahm nicht erst den Versuch seine Bürgerinnen und Bürger zur Zustimmung zu dem Ukraine-Assoziierungsabkommen zu überzeugen, welches eine Regierung unter seiner Beteiligung mit betrieb und welches die Europäische Kommission unter seiner Mitverantwortung für alternativlos erklärte. Vielleicht schwieg Timmermans ja auch deswegen so vernehmlich, weil er befürchtete, jede Wortmeldung von seiner Seite könnte nur die Nein-Stimmen vermehren.
Jedenfalls bestürmten die jetzt unterlegenen Gegner der Referendumsinitiative dem Vernehmen nach den Präsidenten des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, und den ehemaligen belgischen Ministerpräsidenten Verhofstadt, sich jeglicher Meinungsäußerung zu enthalten, weil sie als archetypische Europa-Besserwisser nur schaden würden.
Charakteristisch schließlich sind auch erste Reaktionen aus dem aufgescheuchten Brüssel. Der Fraktionsvorsitzende der EVP etwa, Manfred Weber (CSU), ließ verlauten, ab sofort dürfe es keine europäischen Hinterzimmerentscheidungen geben. Was das aber konkret bedeuten solle, oder ob es überhaupt etwas bedeuten solle, ließ er natürlich völlig offen, und jeder einigermaßen normal misstrauische Zeitgenosse wird vermuten, dass es nur darum ging, die früh-morgendliche Radiosendung hinter sich zu bringen. Andere Stimmen sprechen sehr kreativ von einem „Weckruf“ für die europäische Politik. Der wievielte eigentlich? Und die ganz Schlauen verstecken sich hinter der niederländischen Regierung und sagen, diese müsse nun signalisieren, was zu tun sei. So, als handle es sich um eine rein niederländische und nicht eine europäische Angelegenheit.
Was bezüglich des Assoziationsabkommens konkret zu tun ist, ist meines Erachtens leicht zu sagen, aber natürlich schwer zu realisieren: Das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine muss nachverhandelt werden. Dabei ist insbesondere den beiden Hauptargumenten Rechnung zu tragen, die, jenseits der allgemeinen Europa-Verdrossenheit, ins Feld geführt wurden. Das sind der in der Tat notwendige Kampf gegen die ungebrochene Korruption in der Ukraine und die Klarstellung, dass das Assoziierungsabkommen tatsächlich doch nicht der erste Schritt zur Mitgliedschaft sei, den sich da irgendjemand angeblich erschleichen wollte.
Das Europäische Parlament muss diese Konsequenz umgehend von Kommission und Europäischem Rat einfordern. Wenn das Europäische Parlament dazu nicht in der Lage wäre, müsste man sich ernsthaft fragen, wozu es in der aktuellen europäischen Demokratiekrise eigentlich gut ist.
Schwieriger ist es selbstverständlich, die Abwärtsspirale zu durchbrechen, die sich darin zuspitzt, dass sich zum einen Bevölkerung und politische Klasse immer öfter gegenseitig das Misstrauen aussprechen und zum anderen, dass immer öfter notwendige europäische Gemeinschaftshandlungen durch national-nationalistisch-chauvinistisches Gegeneinander blockiert werden.
Täuschen wir uns nicht: Wir sind schon gefährlich weit vorrangekommen auf der Rutschbahn in Richtung einer neuen europäischen Realität, die nicht etwa durch das formelle Auseinanderbrechen der EU charakterisiert wäre, sondern durch die fortschreitende Aushöhlung europäischer Politik zugunsten nationaler Egoismen. Wenn sich nichts ändert, droht die EU zum Wiedergänger zu werden, des Jahrhunderte dahinsiechenden Molochs, der Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation hieß, nur natürlich mit Figuren wie Barroso und Juncker statt Kaisern.
Durch nationale Aktion ist eine Umkehr meines Erachtens nicht möglich, auch wenn man sicherlich nicht fehlgeht in der Annahme, es komme besonders auf Deutschland an als Führungsmacht, ob wir schnell weiter abrutschen oder nicht. Eigentlich müsste man eine transnationale Europapartei erfinden, die zugleich eine Lasst-uns-Europa-verändern-Partei sein müsste. Ich würde mich allerdings auch schon dafür begeistern, wenn wenigstens wir Grüne auf dem Weg in eine solche Richtung anfangen könnten gemeinsam europäisch zu analysieren, zu denken, zu handeln. Da fehlt auch noch viel.