Deutschlands Europapolitik: Wollen wir aufhalten, verwalten oder gestalten?

BEITRAG ERSCHIENEN IM “STACHEL”  – ZEITSCHRIFT DES GRÜNEN KREISVERBANDS CHARLOTTENBURG-WILMERSDORF

Zur Polemik bietet die deutsche Europapolitik derzeit viel Anlass. Man kann geißeln, dass die CDU/CSU gleich drei verschiedene Europapolitiken hat: eine von Merkel, eine von Schäuble, eine von Seehofer. Man kann auch ironisieren, dass die SPD gar keine hat oder Gabriel jede Woche eine andere, was auf das Gleiche hinausläuft. Man kann sich über die Linkspartei lustig machen, die, seitdem Syriza sich gespalten hat, gar nicht mehr weiß, wohin, und an ein und demselben Tag für (Riexinger, Gysi) und gegen (Wagenknecht) den Euro plädiert. Man kann auch, wenn man will, beklagen, dass es in der Grünen Bundestagsfraktion bei den letzten zwei Griechenlandabstimmungen jeweils Ja-Stimmen, Nein-Stimmen, und Enthaltungen gegeben hat.

Doch das alles bringt nichts; es zeigt schließlich nur das Erwartbare, dass angesichts der großen Unübersichtlichkeit, die Europas Lage prägt, alle politischen Lager Schwierigkeiten haben, eine kohärente Orientierung anzubieten. Nur eine politische Adresse weiß genau, was sie will. Die Chauvinisten und Deutsch-Nationalen wollen das europäische Projekt abwickeln. Doch sie sind erfreulicherweise in Deutschland weniger stark als bei etlichen unserer Nachbarn, und sie sind durch die Spaltung der AfD (in Alfa und Omega) zusätzlich geschwächt.

Ich sehe vor allem drei Herausforderungen auf die deutsche Europapolitik zukommen, die für alle politischen Kräfte schwer zu meistern sein werden. Erstens: Unsere Fähigkeit mit vielfältigen Krisen gleichzeitig zurecht zu kommen, wird strapaziert werden. Griechenland; weltweit verflochtene Wirtschafskrisen; Ukraine; Flüchtlinge; zunehmende klimabedingte Unwetter; TTIP-Konflikt; ISIS; die Liste ließe sich mühelos verlängern. Kein einziges Thema dieser Liste wird sich in absehbarer Zeit in Wohlgefallen auflösen. Zweitens: Die von Deutschland in den Jahren seit 2008 erworbene Halb-Hegemonie innerhalb der EU und vor allem innerhalb der Euro-Zone wird sich verstärkten Widerständen gegenüber sehen. In dieser Hinsicht war der 13.Juli, der Tag, an dem Wolfgang Schäuble Griechenland aus der Eurozone hinauswerfen wollte, ein Wendepunkt. Mehrere unserer Nachbarländer, vor allem Frankreich, waren davon so geschockt, dass sie in Zukunft selber anders aufspielen werden. Drittens: Um Auswege zu eröffnen, wird Deutschland seine bisher eingenommenen Positionen in manchen Fragen revidieren müssen. Das findet derzeit in der Flüchtlingsfrage schon statt, in der de-facto das bisher hochgehaltene Dublin System (zu Recht!) auf die politische Müllkippe befördert wird. Das gilt für massive Schuldenerleichterungen gegenüber Griechenland. Das wird gelten für die Politik gegenüber dem Westbalkan, für den Umgang mit fossilen Energieträgern, für die deutsche Exportüberschuss-Strategie, etc. pp.

Die Situation der EU ist unlängst so beschrieben worden: Zurück, heraus aus dem europäischen Einigungsprojekt, will niemand (außer Camerons Tories vielleicht, aber das bezweifle ich); richtig nach vorne gehen und Europas Zusammenhalt mutig vertiefen traut sich niemand; der status quo aber ist schon auf kurze Sicht unhaltbar geworden.

Europa aufhalten, verwalten, oder gestalten? Das erste würde die alte Büchse der Pandora, gefüllt mit nationalistischem Gegeneinander, das Europa jahrhundertelang prägte, neu öffnen. Das zweite geht nicht, auch deshalb, weil die große Mehrheit der Bevölkerung die politisch vorherrschende Allianz von Bürokraten und Lobbyisten nicht mehr akzeptiert, sondern fundamentale Veränderung verlangt. Es bleibt nur das Gestalten, frei nach dem verzweifelt fröhlichen Motto: Du hast keine Chance, aber nutze sie. Antonio Gramsci würde das wahrscheinlich optimistischer formulieren und vom „Optimismus des Willens“ reden.

Was werden wir Grüne tun? Lamentierend am Rand stehen? Dem offenkundigen Veränderungsdrang aus Sorge um die trügerischer Sicherheit des Status Quo in den Weg treten? Oder die Veränderung anführen? Wir werden uns schnell entscheiden müssen.

Der Stachel als PDF

Link zum grünen KV Charlottenburg-Wilmersdorf